Willst du mich heiraten ? – Vater RHEIN erzählt

Mein Name ist  Rhein – vielen als „Vater Rhein“ bekannt…

Ich will euch heute erzählen, was mir kürzlich passiert ist.

Ich räkele mich kurz hinter Mannheim gerade so schön in meinem Bett: was muss ich da lesen – in Riesen-Lettern am Ufer geschrieben?

„WILLST DU MICH HEIRATEN ?“

Das stand da!

Zum Glück kann ich als gebildeter deutscher Strom ja lesen! Meine Töchter meinen zwar, das sei mit meiner Bildung nicht so weit her und Pisa läge auch gar nicht am Rhein – aber die mäkeln ja nur ständig an mir herum, die undankbare Blase.

Ich denk’ also: das ist bestimmt wieder so eine bekloppte Aktion von der alten Frau Donau!

Die ist ständig hinter mir her und will mich überzeugen, dass wir zusammen gehören täten.

Dabei kann ich sie wirklich nicht leiden!

Seht mich an: da komme ich munter und blitzblank aus den Alpen herab gesprungen, stürze mich kühn über Felsen-Sprünge, lasse die Fischlein in meinen klaren, hellen Fluten spielen, wälze mich über rollende Rheinkiesel – das kitzelt herrlich und hält jung!

Bei Speyer und Worms glänzt es gar golden auf meinem Grunde!

Und da macht mich ständig diese alte Schlampe an, die zäh und schlammig durch die schönsten Auen traurig dahin trödelt. Ist auch noch stolz, dass Wiener Blut in sie hineinläuft (igitt!) – und beschäftigt Ghost-Writer, die die lächerlichsten Lügen über sie verbreiten: „Donau so blau!“ – Die dumme… äh .. Kuh!

Gut, über mich gibt es ein paar schlüpfrige Lieder, z.B.  „Ich hab’ den Vater Rhein in seinem Bett geseh’n!“ Aber immerhin ist alles wahr, was da gesungen wird.

In mir könnt ihr selbst mit Blick auf den Kölner Dom noch baden – aber das Gewässer, in das die Frau Donau ihre Füße steckt, heißt ja wohl nicht umsonst „Schwarzes Meer“ – nachdem sie bereits im Schwarzwald entspringt….

Dass sie sich ständig rühmt, länger zu sein als ich, ist schon auch sehr bezeichnend:

„Quantität statt Qualität!“ sagt da der Kenner. Schon alleine ihre Nebenflüsse – ich sag’ euch, die sind so unbedeutend, dass die Leute extra Reime erfunden haben, um sie sich zu merken:

„Iller, Lech, Isar, Inn fließen zu der Donau hin, Altmühl, Naab und Regen fließen ihr entgegen.“ … reim’ dich oder ich freß’ dich!

Dagegen die Flüsse – ich bitt’ euch! – die ich, bei aller Bescheidenheit, in mir aufzunehmen die Ehre habe:

Neckar, Main, Mosel, Nahe, Aar … um nur die klangvollsten zu nennen!

Jede eine strahlend berühmte Flußpersönlichkeit, die schon für sich besungen wird und an deren Hängen – wie an meinen – die berühmtesten Weine kultiviert werden.

An den Hängen des Regen wächst kein Wein, sondern wird höchstens Blutwurz-Schnaps gepanscht…

Am schlimmsten ist aber, dass diese ungehobelte, überlange Wasserwurst, die sich Donau nennt, behauptet, ich – der große Vater Rhein – hätte es nötig, ihr Wasser zu stehlen!

Der Tatbestand soll darin bestehen, dass ich der bereits hoffnungsvoll angeschwollenen Fluß-Jungfer große Mengen ihres Nasses abzweigen solle, um mich selbst damit zu mästen, so dass das Jüngferlein danach wie magersüchtig dahinplätschere!

Schon klar: sie meint die Aach-Quelle, aus der in einem großen Schwall sich Wasser ergießt das – angeblich! – aus der Donau stammen soll, und das – zugegebenermaßen! – sich über kurz mit meinen Wassern vereint.

Ich habe das weiß Gott nicht nötig, anderweitig Wasser einzusammeln: spendiere ich doch schließlich in dieser Gegend den Schwaben und Schweizern so mal eben ein Meer! … danke, nicht nötig! Bleiben sie sitzen!

Sollte das Wasser dort wirklich von ihr stammen, kann ich dazu nur sagen:

wieso hat sie denn nicht dicht gehalten, die inkontinente Trutschn!

Schwamm drüber, wie wir Flüsse und Meere sagen: schließlich war sie es ja auch gar nicht – ich meine den Heiratsantrag!

Der war nicht von der Frau Donau – und er galt auch gar nicht mir.

Aber wem dann?

Logisch, dass ich wegen einer solchen Frage nur zu meiner Tochter Woglinde gehen musste.

Sie ist an sich ein gutes Kind, aber ein furchtbares Tratschmaul, das aber eben deshalb alles weiß, was sich in und um mein Bett zuträgt. Sie hat sich in ihrer Klatschsucht sogar einmal pflichtvergessen den Schatz der Nibelungen rauben lassen – aber das ist ziemlich lange her… und eine andere Geschichte.

Doch manchmal hat das eben auch sein Gutes: sie wusste es – natürlich!

Väterchen, sagte Woglinde, du bist wahrscheinlich der einzige an deinem ganzen Lauf, der das noch nicht weiß! Höre, das war so:

Ein liebestoller Jüngling namens Christian, nun ja, leicht angejahrt, ehemals aus Heidelberg stammend und von dort über den Rhein strebend, soll diesen Antrag in Riesenlettern an dein Ufer eingekratzt haben – im Schweiße seines Angesichtes!

Wogi, sage ich, nach meinem letzten Kenntnisstand ging das bei den Jung-Menschlingen doch so:

„Ey, Puppe, morgen – 10 Uhr – Standesamt: Trauung. Danach: Zeugung!“

Daddilein, du kommst halt nicht mehr so richtig mit.

So was lässt sich ein Menschlingsweib heute nicht mehr bieten!

Da muss sich das Männchen schon ein bisschen was einfallen lassen.

Außerdem hatte er ja schon gezeugt.

Das habe ich nun wirklich nicht gerafft: zu unserer Zeit hätte es das nicht gegeben… Wozu dann noch heiraten?

Aber Wogi meinte, das wäre heute so: die Menschlings-Frau  verlangt erst einmal den Nachweis, dass der Menschling schöne Babys machen kann, dann darf er sie heiraten!

Wer ist denn überhaupt die Glückliche, der der Antrag galt?

Das ist die Hohe Frau Karineck zu Frankenthal, wusste Wogi auch dieses zu berichten!

Aha – zunächst musste aber die Frage geklärt werden: stimmt denn das Yellow-Press-Geplätschere meiner Tochter Wogi überhaupt?

Also verlangte ich von ihr einen lückenlosen Nachweis, woher die Nachricht stammte.

Woglinde berichtete wie folgt (ich hoffe, dass ich alles richtig memoriere!):

– Ich, Woglinde, zweitälteste Tochter des Vater Rhein, erhielt die Nachricht brühwarm von unserer Oberklatschschwester Loreley.

– Diese hatte die Information auf einem Zettel gelesen, der in einer Flasche gesteckt hatte. Die Flasche war, von Mainz kommend und den Rhein hinunter treibend am Pfalzfelsen bei Kaub zerschellt.

– Die Flaschenpost hatte ein Reiter in Frankfurt unterhalb des  Römers in den Main geworfen. Der wackere Reiter – ganz recht, es war der berüchtigte Bamberger Reiter – war in drei Tagen und Nächten von Bamberg nach Frankfurt geritten. Er konnte nicht lesen, und deshalb wollte er das einzige Buch, das er besaß und das für ihn nutzlos war, auf der dortigen Buchmesse verkaufen.

Daraus wurde aber nichts, denn  hinter dem großen Stall für die riesigen dampf-schnaubenden Pferde kreuzten die Priesterinnen der Vesta seinen Weg – und er verfiel ihnen… Aber in einem letzten Aufbäumen seines Pflichtgefühls diktierte er die Nachricht, die er für so wichtig hielt, dass sie unbedingt in den Rhein gelangen sollte, einer der Vestalinnen. Diese konnte nicht nur lesen sondern auch schreiben, denn  sie war im Hauptberuf Professorin für Altgriechisch an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität der alten Reichsstadt, wovon man aber als Rasse-Weib nicht leben kann. Sie wusste daher auch, dass der Main, der die Stadt Frankfurt durchquert, in den Rhein mündet und erfand dabei dann gleich noch die Flaschenpost.

– Der Bamberger Reiter hatte die Nachricht von seinem Pferd erfahren.

– Diesem hatte die Neuigkeit ein Lachs erzählt, als es an der Regnitz gerade seinen Durst stillte. Da das Pferd nur Wasser gesoffen hatte und kein Schlenkerla, wie er selbst, befand der Reiter, dass die Geschichte  glaubwürdig sei und weiter befördert werden sollte.

– Woher wusste aber der Lachs die Geschichte?

Er hatte, nachdem er von der Regnitz in die Aisch und von dieser in den Ehe-Bach hinauf geschwommen war, direkt bei dem Markte Baudenbach einen Steinkrebs gefressen. Der hatte die Geschichte gekannt – und so wusste sie jetzt der Lachs!

– Wie hatte es aber der Steinkrebs erfahren?

Der Steinkrebs hatte – im flachen Wasser des Ehe-Baches dösend – sich plötzlich eines frechen Baudenbacher Katers zu erwehren – was ihm nach einer halben Stunde hitzigen Gefechtes auch gelang: der Kater namens Leporello sah – nach drei sehr schmerzhaften Scherenkniffen vom Krebs – schließlich ein, dass der Steinkrebs nicht in seine Nahrungskette gehörte (wodurch sich dieser für den Lachs bewahren konnte!).

So saßen sie dann noch eine Weile friedlich beieinander, und der Baudenbacher Kater erzählte dem Steinkrebs die Geschichte von dem Heiratsantrag am Ufer des Rheines. Nur für den Fall, dass er vielleicht mal bis zum Rhein hinunter zu schwimmen gedachte.

– Diese Geschichte hatte der Kater Leporello Tags zuvor von seinem Füttersklaven erfahren, als er – ohrenbetäubend schnurrend – auf dessen Schoß lag.

– Ja, und Kater Leporellos Füttersklave – das ist der Großvater des schönen großäugigen Frischlings, den die beiden Menschlinge Christian und die Hohe Frouwe Karineck gezeugt hatten. Der Name des Menschen-Frischlings ist Emma-Charlotte.

Soweit scheint die Geschichte nun ja schlüssig zu sein….

Ich hätte sie gerne noch ein bisschen genauer überprüft und habe deshalb unser MEGA-Klatschbase Internette befragt. Die hat aber nur mit den Schultern gezuckt.

Nachdem das Ereignis also im Internet fast keine Spuren hinterlassen hat, neigt Internette zu dem Schluss, dass es wohl doch eher gar nicht statt gefunden hat, zumal noch nicht einmal ein Video bei YouTube davon existiert!!!!

Aber wie gesagt – hat das Ereignis nur „fast“ keine Spuren hinterlassen…

Googels Sateliten sind eben allgegenwärtig – und so fand ich tatsächlich bei akribischer Suche die Schrift an meinem Ufer auf einem Satellitenbild wieder:

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Weil das aber doch eine schöne Geschichte ist – und ihr sie aus dem Internet nicht erfahren werdet – habe ich extra mein Bett verlassen, um sie euch zu erzählen. Langsam wird mir hier die Luft aber zu trocken – ich kehre jetzt zurück.

Wie bitte? Ob die beiden sich gekriegt haben? Zu dumm – das habe ich vergessen, meine Tochter zu fragen. Wogi weiß das sicher – ich lasse es euch dann ausrichten!

Und schönen Gruß an die Ehe – ich meine den Bach, der ja schließlich auch ein Teil von mir ist!

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Kater LEPORELLO und die Fellwechsler

Mann nennt mich Leporello und seit einiger Zeit habe ich so einen merkwürdigen Drang, etwas über mein Leben mit den Fellwechslern zu erzählen.

Es wird einige Zeit dauern, bis mein Sekretär, der bisher nur mein Füttersklave war, das alles aufgeschrieben hat. Er ist ja recht willig – aber wir kommen halt nicht so oft zusammen. 14,8 Stunden am Tag muss ich schlafen, und die übrige Zeit ist er mal weg oder ich bin mit meinem Revier ja auch noch stark beansprucht.

Ich lebe auf einem Dorf im Ehegrund – eigentlich kenne ich nichts anderes, denn an meine kurze Kinderzeit in Heidelberg kann ich mich kaum noch erinnern. Neulich saß ich mit einer vor Kurzem aus der Großstadt zugezogenen Kätzin zusammen und wir haben uns eine Stunde lang mal so richtig ausgeschwiegen. Danach glaube ich dass wir hier auf dem Land als Katzen ein richtiges Paradies haben!

Mit meinem Füttersklaven habe ich es übrigens ganz gut getroffen. Er strengt sich ziemlich an – er hat wirklich sehr gut begriffen, wer hier der Herr im Hause ist und begehrt auch niemals auf! Im Gegenteil, manchmal wird mir seine Schmuserei schon fast zu viel.

Merkwürdigerweise erinnert er mich oft an meine Mami, obwohl er ihr kein bisschen ähnlich sieht und auch keine Zitzen hat – deshalb darf er mich auch am Bauch kraulen, was sich sonst kein anderer Fellwechsler trauen dürfte!

Im Internet – ja mein Füttersklave lässt immer seinen Computer an und ich habe ja oft viel  freie Zeit alleine zu Hause! – fand ich eine interessante Erklärung dafür, die vom berühmten Kater Sigismund „The Couch“ Joy stammt: wenn wir früh von unserer Mutter entfernt werden, nehmen wir den Füttersklaven als Mutter an, egal ob er Zitzen hat oder nicht.

Ich kann nur froh sein, dass ich kein Hund bin. Erstens natürlich sowieso, weil Hunde halt arme Schweine sind…. aber besonders wegen meinem Füttersklaven. Wenn ich ein Hund wäre, müsste der mich ja knallhart dominieren – das könnte der gar nicht. Der kann froh sein, dass ich ihn dominiere. Aber ich bin ja sanft und großzügig und lasse ihm manches durchgehen!

Außerdem ist er viel weg – und so gehen wir halt jeder unsere Wege, was für einen Hund ganz übel wäre.

Das merkwürdigste an den Fellwechslern – und deshalb heißen sie ja so – ist, dass sie mehrfach am Tag ihr Fell wechseln. Unter den Wechselfellen sind sie fast ganz nackt.

Aber das macht ihnen nichts aus. Deswegen pflegen sie sich auch überhaupt nicht. Wahrscheinlich hätte es auch nicht viel Sinn, wenn sie ihren nackten Körper abschlecken würden, da sie anschließend ja doch ein Fell darüber ziehen.

Sie machen lieber alles mit Chemie … darin sind sie ganz groß!

Sie gehen nur in eine Zelle und dort spülen sie ihren nackten Körper mit Zusatz von Chemikalien ab. Das haben sie wahrscheinlich von ihren Autos abgeguckt, die sind ja immer völlig nackt! Auf ihre Autos könnte man allerdings regelrecht neidisch werden.

So wie die die Fellwechsler dominieren, das schafft selbst die dominanteste Katze nicht!

Übrigens reinigen sie (natürlich!) ihre Wechselfelle auch mit Chemie. Dazu haben sie wieder eine andere Zelle. Als ich mir die mal genauer angesehen habe, wäre ich um ein Haar mitgereinigt worden.

Es ist wirklich so wie mein weiser Großonkel immer sagte: „Curiosity kills the cat!“

Wegen ihrer Liebe zur Chemie habe ich die folgende Geschichte aufgeschrieben („Menschen“ nennen sich die Fellwechsler selbst – und deswegen sagt man unter Katzen zu einer Katze, die sich schlecht pflegt: „du menschelst!“.)

Leporellos Geschichte über die Menschen:

Wenn Katzen Menschen wären, würden sie als erstes aufhören, stundenlang Ihr Fell und alle Körperteile mit der Zunge und den Zähnen zu pflegen.

Sie würden einen Spray entwickeln, der in Sekunden aufgetragen wird und sich dann selbständig über das ganze Fell verteilt, damit es glänzt und gut riecht und wasserabweisend ist!

Sie würden auch eine Art Tunnel mit lauter rotierenden Bürsten konstruieren, die das Fell dann überall und von allen Seiten bürstet und massiert – das dauerte auch nur eine Minute, wenn man da durchläuft.

Die frei gewordene Zeit würden sie damit verbringen Mausodrome zu bauen und Mäuse dafür zu züchten.

In den Arenen der Mausodrome treten dann vor einem riesigen Katzenpublikum die schönsten Kater und Katzen als Gladiatoren gegen ausgesuchte Zucht-Mäuse an, die zwar sehr mutig sind, aber nicht die geringste Chance haben…

Die berühmtesten Gladiatoren-Katzen tragen natürlich riesenhaft verlängerte, vergoldete und superscharfe Krallen. Ab und zu gewinnt dann doch eine Maus, weil eine Katze über die verlängerten Krallen stolpert und dann in diese seine eigenen todbringenden Krallen fällt ! Dann werden Zuschauer-Katzen, die auf den Sieg dieser Maus gewettet haben, sagenhaft reich! Aber das ist selten und man munkelt, dass es auch nicht ganz zufällig passiert,…

Natürlich sind die Wände der Mausodrome mit riesigen Plakaten mit Werbung für das neueste Fellspray tapeziert! Und am Ende schreit der Sieger; “Ich bin so stark, weil ich Golden-Cat-Fellspray benutze!” Die ganze Arena jubelt dann und alle Katzen geben das Geld, das ihnen nach dem Eintrittspreis und den verlorenen Wetten noch geblieben ist, für Fellspray aus..

Die meisten Katzen- und Mäusefamilien sehen sich aber die Gladiatorenkämpfe im Fernsehen zu Hause an, wo sie den ganzen Tag laufen. Da aber die Katzenfernseher-Bilder so klein sind, und die bei den Mäusen noch viel kleiner, kann man die Gladiatoren und Mäuse darauf überhaupt nicht unterscheiden, und deshalb läuft den ganzen Tag immer dieselbe Veranstaltung als Endlosschleife.

Das hindert natürlich die alten Kater nicht daran in ihrer Eck-Kneipe den ganzen Tag über die tollsten Gladiatoren-Stars ihrer Jugendzeit zu schwadronieren. Denn zu Hause haben sie ja schon mal gar nichts zu sagen…

Das war die Geschichte.

Die muss ich immer wieder erzählen, wenn wir in „der Runde“ zusammen hocken. Geschichten haben bei Katzen einen hohen Stellenwert, weil wir sonst eher schweigsam sind. Die Zeit der großen Geschichtenerzähler scheint aber zu Ende zu gehen.

Meine Großmutter, die den klangvollen Namen „La Grande Feline“ hatte, war eine der letzten großen Geschichtenerzählerinnen, die ich kannte.

Leider ist sie kürzlich in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Sie wählte dazu den sehr engen Spalt zwischen dem Kopfsteinpflaster unserer Dorfstraße und dem riesigen Zwillingsreifen eines Lastwagens. Das ist ein tot-sicherer Weg dorthin.

Sie war die einzige, die etwas über den Hintergrund der geheimnisvollen Fellwechslerei erzählen konnte. Und da sie das nun nicht mehr kann, will ich die Geschichte hier erzählen.

La Grande Felines Geschichte heißt:

Wie Klein-Leo sein Leben schließlich doch meisterte !

Es kam ein Tag, an dem es plötzlich ungewöhnlich still im und um das Haus war. Und das, obwohl es schon weit nach der Zeit war, zu der der Tau auf der Wiese getrocknet war! Niemand hatte es kommen sehen. Alle waren überrascht und ratlos. Die Türen und Fenster waren alle versperrt. Fünf Katzen saßen ratlos in der Remise zusammen.

Klein Leo, das Hibbelchen, jammerte ängstlich und stotterte dabei:

„S-s-sie haben s-s-sich davon g-g-gemacht – w-w-wir w-w-werden alle v-v-verhungern!“

Bolle, der Rammbock, knurrte: „Du verhungerst nicht – du bist ein autonomer Jäger, wenn es darauf ankommt! Da warten eine Million Mäuse zwischen hier und Würzburg darauf, von dir gefressen zu werden!“

„Ja, aber das ist furchtbar anstrengend, wenn man immer nur jagen muss, weil man da-da-von lebt!“

„Dekadenter Schnösel !“ bellte Methusalem. „Da sind wir früher mit ganz anderen Situationen fertig geworden – im Krieg…..“

„Aufhören, aufhören!!!!“ kreischten und grunzten alle durcheinander.

Pragmatick, der ungerührt und gelassen wie eine Statue auf einem Kartonstapel saß, ließ sein etwas leieriges hoch-kätzisches Idiom ertönen: „Die sind nur verreist; das machen die Fellwechsler ab und zu. das überkommt sie wie die Hitze unsere Damen – unerklärlich und plötzlich. Dann packen sie alle auf einen Schlag ihre Wechselfelle ein und verschwinden für eine gewisse Zeit.“

In die Stille hinein piepste Klein-Leo: „Und w-w-w-wann kommen sie wieder?“

„Zwei Tage – zwei Wochen – zwei Monate… das kann man nicht wissen.“

„Und-und-und woher wissen wir, dass sie überhaupt wiederkommen?“

„Ich habe durch das Fenster gesehen: die Unbeweglichen, die ihnen so wichtig sind, dass wir ihnen nicht beibringen dürfen, wie man von den Tischen hinunter springt, die sind alle noch an ihrem Platz. Die hätten sie sonst bestimmt mitgenommen…..“

Feline war mit der Auskunft noch nicht zufrieden und unterbrach sogar ihre unablässige Fellpflege, um zu fragen:

„Weiß man warum sie das machen? Mit den Wechselfellen woanders hin ziehen?“

„Es wird vermutet, dass sie sich fast alle gleichzeitig an einen heiligen Ort begeben, wo sie dem Kult der Wechselfelle huldigen. Oft wird beobachtet, dass sie danach mit vielen neuen Wechselfellen zurück kehren. Wahrscheinlich ist der Kult furchtbar anstrengend, denn nach der Rückkehr sind sie immer sehr erschöpft! Ich habe schon mal das Wort >Palma< in dem Zusammenhang aufgeschnappt – das ist der Name eines Baumes, den es hier nicht gibt… Vielleicht müssen sie bei dem Kult ja Bäume fällen oder auf Bäume klettern!“

In der Gesellschaft mischten sich nun gleichrangig Bewunderung über so viel nüchtern gelassenen Klarblick und Verärgerung über die eigene Kopflosigkeit. Wie hatten sie das alles nur übersehen können und warum hatte Pragmatick meistens recht?

Nur Klein-Leo wimmerte noch einmal leise aber trotzig:

„Die ganze Nacht jagen, um davon zu leben: das ist doch unmöglich!“

Dann schlich er an den Wänden entlang und kontrollierte, ob nicht doch irgendwo ein Napf voll mit saftigem Fleisch plötzlich aus dem Boden gewachsen war…..

Immer wieder war ihm dabei ein unscheinbares, glattes Kästchen verdächtig gewesen. Wenn er sich diesem näherte, schien ein Futtergeruch näher zu kommen, der sich wieder entfernte, wenn er weiter schlich. Er untersuchte das Kästchen näher, tastete es sogar mit den Vorderpfoten ab, was eigentlich ein völlig un-katzenhaftes Verhalten ist, und nur durch den Duft zu erklären war, der immer köstlicher wurde, je größer der Hunger wurde.

Und er schien wirklich von dem Kästchen auszugehen. Ansonsten fiel nichts daran auf, außer dass aus dem Inneren ein ganz leises Schnurren drang. Schließlich markierte er das Kästchen sogar mit seiner Duftmarke, so wie ein Goldsucher seinen Claim absteckt…..

Plötzlich – Klein-Leo hatte gerade wieder die Oberseite des Kästchens mit der Pfote angestupst – sprang eine Klappe auf und legte eine Öffnung frei in der eine Riesen-Portion des köstlichsten Katzenfutters zum Vorschein kam!

Anstatt sich sofort auf den Futterberg zu stürzen, drehte sich Klein-Leo davor wie ein Derwisch im Kreise und rief begeistert: „Seht nur – ich habe es aufgemacht!“

Dass die anderen ihn ein wenig zur Seite schubsten, als sie sich alle vier gleichzeitig auf das Futter stürzten, während Klein-Leo noch seinen Triumph-Tanz aufführte, merkte dieser gar nicht – und war auch nicht bös’ gemeint….

Die anderen blickten sich, noch während sie die Fleischbrocken herunter schlangen, immer wieder verstohlen nach dem kleinen Kater um, der inzwischen ganz still geworden war und hoch aufgerichtet hinter ihnen saß und über sie hinweg in die Ferne zu blicken schien. Da kam es den schlingenden vier so vor, als ginge ein helles Leuchten vom Haupte des kleinen Katers aus. Nun, es war sicher nur der feine Lichtstrahl der Morgensonne, der gerade jetzt durch einen Spalt der Remisentür von hinten auf das Nackenfell fiel und den kugelrunden Kater-Schädel in ein überirdisches Licht tauchte, bis schließlich seine hauchzarten Ohren hell in altmeisterlichem Rosa aufleuchteten.

Klein-Leo hatte etwas getan, das sonst ausschließlich in die Machtsphäre der Fellwechsler gehörte: er hatte Futter aus einem verschlossenen Behältnis auf vermeintlich magische Weise zum Vorschein gebracht: dies hatte in der langen Geschichte der Katzenheit – bis zurück in graue Vorzeit – noch keine Katze zustande gebracht. Daher fiel da außer dem frühen Sonnenstrahl eben auch der Abglanz der Fellwechsler-Macht auf den kleinen Kater!

Klein-Leo war wie benommen und die anderen umringten ihn nun in achtungsvollem Abstand: zwei aus der Gruppe hatten nämlich genau gesehen, dass Klein-Leo das Kästchen mit seiner Pfote geöffnet hatte. Man konnte sich nur nicht mehr darauf einigen, ob es die rechte oder die linke Pfote gewesen war…..

Deshalb leckten Susanna und Feline unmittelbar nach der Beendigung ihrer Mahlzeit ausgiebig beide Vorderpfoten des kleinen Katers, anstatt sich – wie üblich – sofort der ausgedehnten Pflege des eigenen Felles zu widmen!

Hätte es noch irgendwelche Zweifel an Leos magischen Fähigkeiten gegeben, so wären diese 12 Stunden später endgültig beseitigt worden, als Klein-Leo noch eine zweite Klappe an dem Kästchen öffnete, unter der sich wieder köstlich frisches Futter verborgen hatte.

Nun, diesmal hatte es niemand direkt gesehen, aber Klein-Leo saß wieder in unmittelbarer Nähe des Kästchens als es passierte. Dies musste geradezu zwangsläufig so sein, da er sich seit dem ersten Vorfall nicht länger als eben manchmal doch unbedingt nötig von diesem Objekt entfernt hatte, das ihm diese über-kätzische Aura verliehen hatte. Das Kästchen war sozusagen der Altar, auf dem er seine neue Priester-Katzen-Würde zelebrierte….

Also rief er , sobald die 2. Klappe aufsprang: „Ich habe es wieder getan!“ … und war selbst genauso davon  überzeugt, wie die anderen vier.

Diesmal passierte nun etwas völlig un-katzenhaftes: die vier anderen Katzen – größtenteils älter und größer als er – saßen geduldig im Halbkreis um den kleinen Kater und das Kästchen herum, bis dieser ausgejubelt hatte, und ließen ihn dann als ersten allein an das Fressen.

Dies war nun nicht zu ihrem Nachteil: denn Leo – im Bewusstsein seiner neuen hohen Würde – naschte nur kurz im Stile einer Kulthandlung und ließ dann, würdig und hoch aufgerichtet daneben sitzend, die Genossen alles herunter schlingen.

Zukünftig schadete es auch nicht mehr, wenn er gerade durch einen entfernten Bereich der Remise stolzierte, wenn die Klappe aufsprang. Dies war so unzweifelhaft zum Werk Klein-Leos geworden, dass es von allen – auch Leo selbst – als selbstverständlich empfunden wurde, dass er dies auch auf die Entfernung bewirken konnte.

Wenn die Klappe dann aufsprang, rief Klein-Leo:

„Nehmet, was ich euch bescheret habe!“, schlenderte herbei und nahm gelegentlich auch ein paar Happen.

Bei den Katzen fiel es nicht weiter auf, dass Klein-Leo sich fortan auf sehr ausgedehnte nächtliche Jagdzüge begab, um die selbst aufgelegt Fress-Zurückhaltung zu kompensieren.

Aber bei mehreren Mäusestämmen im Ehegrund entstand damals die Legende vom Apokalyptischen Kater, der – selbstverständlich als übernatürlich groß und mit einem Leuchten um das Haupt beschrieben – wie eine riesige Vernichtungsmaschine durch die Felder raste und ganze Mäusevölker dahinschlachtete.

Diese Legende wiederum hat sich in der Folgezeit als eine nützliche Warnung an Mäusekinder erwiesen, damit sich junge, unerfahrene Mäuse vor jenem, Wesen zu schützen wissen, das im Herbst bis in die Dunkelheit hinein über die Felder rast, mit zwei hellen Lichtstrahlen, die aus dem hohen, massigen Haupt hervortreten, unter dem todbringende Messer rotieren.

Fortan war Klein Leo sich stets sehr sicher, dass er jede Situation im Leben beherrschen konnte – und die anderen Katzen glaubten das auch noch, nachdem die Fellwechsler wieder zurückgekehrt und das magische schnurrende Futterkästchen wieder verschwunden war.

Klein-Leo aß nur noch asketische Kleinmahlzeiten.

Susanna, die unglaublich erotische Kätzin, ließ ihn als ersten ran, wenn sie in Hitze kam…

Er ging hin, kaufte sich eine Brille und eine Fliege – einen gewaltigen Schnauzbart hatte er ja schon, und nannte sich forthin „Jean Pütz“.

Jetzt bin ich von dem vielen Nicht-Schweigen doch sehr erschöpft. Ich hoffe mein Sekretär-Füttersklave hat das alles ordentlich aufgeschrieben. Kontrollieren kann ich das ja leider nicht.

Ich schlafe jetzt mal ein paar Stündchen…. uuuuuaaaäääääh. Schnurrrrr….

Copyright 2007, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Ernstchens erste Oper!

Meine Schwiegereltern haben meine Frau mit dem Namen Elvira gesegnet, weshalb sie seit Ur-Zeiten nur „Donna“ gerufen wird, und – nomen est omen – eine begeisterte Opernbesucherin ist.

Nur ich nenne sie Elv – und bin kein so großer Opern-Liebhaber, was ich aber bisher nicht so deutlich durchblicken ließ – geschweige denn die Tatsache , dass das mit einer Art Trauma zusammenhängt, das ich in früher Jugend erlebte.

Ich hatte die Sache auch schon fast vergessen, bis ich kürzlich, nachdem meine Mutter gestorben war, unten aus einem alten Bücherschrank neben Fotoalben und Heften mit Bildern, die wir als Kinder gemalt hatten, ein Heft fand, in dem ich als Zwölfjähriger eine Zeit lang Tagebuch geführt hatte.

Wenn Sie, lieber Leser, bereits die Geschichte „Ernstchens Schuhe“ gelesen haben, dann kennen Sie mich bereits. Ich bin Ernstchen – d.h. heute natürlich Ernst.

Dann wissen sie auch, dass meine Eltern sich immer sehr große Mühe damit gegeben haben, mich Einzelkind frühzeitig aus der Kinderwelt heraus in die Erwachsenenwelt hinein zu befördern, was nach Ansicht meines heiß geliebten Großvaters, manchmal – oder eher regelmäßig – zu „saukomischen“ (wie Opa gerne sagte) Situationen führte. Damals, in der Oper, war er auch dabei…

Nicht dass man ein Kind mit 12 Jahren nicht mit in die Oper nehmen könnte. Bei der richtigen Repertoir-Wahl, kann das sicher sogar ein idealer Einstieg in die Welt von Musik und Theater sein.

Das Folgende ist die Wiedergabe meiner eigenen Tagebuchaufzeichnung – den etwas unbeholfenen Text des 12-jährigen habe ich nachträglich etwas redigiert, um eine flüssigen Handlungsablauf zu erzeugen (den ganzen Ablauf des Bühnen-Dramas hatte ich damals verständlicherweise nicht fassen können).

Dies ist die Geschichte:

Auf der Bühne stand eine wahnsinnig aufgedonnerte Frau, die ununterbrochen spitze Schreie ausstieß. Eine Weile lang kam aber niemand, der ihr helfen wollte. Sie hatten nur direkt unter ihr eine Musikkapelle in einen Kasten eingesperrt, die angetrieben von einem langen, dünnen Mann immer lauter schepperte. Die spitzen Schreie konnte sie aber trotzdem nicht übertönen. Wahrscheinlich zahlten sie ihnen zu wenig dafür.

Endlich kam ein Mann auf die Bühne gestürmt, und ich dachte schon, der gibt ihr jetzt eine Spritze oder hält ihr wenigstens den Mund zu.

Aber er hielt vor ihr an und streckte nur seine Arme nutzlos nach ihr aus. Wahrscheinlich hatte sie einen unsichtbaren Schutzschirm um sich aufgebaut, den er nicht durchdringen konnte.

Dann fand er doch noch eine Methode, die Schreie der Frau abzustellen. indem er selbst anfing ganz unglaubliche Töne aus sich heraus zu quetschen und zu schluchzen. Es klang etwa wie Kermet der Frosch nur viel höher und zehnmal so laut.

Daraufhin schaltete die Frau plötzlich ihren Schutzschirm ab und er kam an sie heran.

Er wusste aber mit dem Vorteil nichts anzufangen, und unternahm nichts dagegen, dass sie wieder anfing diese Schreie auszustoßen. Vielleicht gefiel es ihm sogar, dass sie solche Schmerzen hatte – jedenfalls machte er wieder den Kermet und die beiden brüllten sich auf offener Bühne eine ganze Weile an.

Wenn meine Mama so schreit, macht mein Papa doch wenigstens das Fenster zu. Aber die kümmerten sich noch nicht einmal um die Kapelle, obwohl die da unten immer mehr raste und tobte.

Plötzlich waren sie aber wohl doch erschöpft, denn  das Geschrei endete. Anscheinend waren sie sich auch nicht mehr böse, denn sie fielen sich in die Arme. Das kenne ich: das machen meine Mama und mein Papa auch immer nach dem Geschrei.

Die anderen Leute in dem Opernhaus waren auch ganz erleichtert, dass das Geschrei vorbei war und klatschten deshalb wie rasend. Manche pfiffen und trampelten sogar mit den Füßen. Das dürfte ich mir mit meinen Freunden zu Hause nicht erlauben – es kam aber keiner, der ihnen die Hammelbeine lang zog….

Was dann kam, war sehr schön und ich erinnere mich noch ganz genau daran, leider war es viel zu kurz:

Ein hübsches Mädchen mit Locken und einem tollen Busen sprang auf die Bühne. Und das allerbeste: sie war barfuss, stellt euch das mal vor! Ich stehe unheimlich auf nackten Füßen bei Mädchen – und die hatte sehr schöne Füße.

Papa erklärte mir, das sei die als Schäferin verkleidete Schwester vom Kermet, aber der könne sie nicht erkennen, da er sie lange nicht gesehen hatte.

Ich fand sie aber nicht sehr verkleidet, denn eigentlich war sie überall ziemlich nackt – und der Kermet glotzte sie natürlich auch entsprechend an.  Ich würde sie garantiert jederzeit wieder erkennen, auch wenn ich sie ein paar Tage nicht gesehen hätte, vor allem an den Füßen!

Dann machte die schöne Schwester auch den Mund weit auf – aber sie schrie nicht, sondern etwas ganz Tolles passierte:

Töne sprangen wie Glasmurmeln aus ihrem Mund und dopsten von den Wänden des Saales wieder zurück. Dann ließ sie Perlenketten von Tönen an die Decke steigen und wie Seifenblasen über die Bühne schweben.

Ich war wie verzaubert – und sehr enttäuscht, als es schon sehr schnell vorbei war. Die Leute auch, denn sie klatschten nur ein bisschen.

Leider waren die Schrei-Frau und der Kermet auch auf der Bühne geblieben, und die Frau sah jetzt die Barfüssige sehr böse an, wahrscheinlich war sie neidisch, weil sie keine so schönen Murmeln aus ihrem Mund springen lassen konnte.

Und dann fing die Schrei-Frau wieder an, aber diesmal schrie sie nicht: erst gurrte sie wie eine Taube, aber dann schraubte sie sich immer höher hinauf mit der Stimme und zum Schluß war es, als hätte sie eine Laser-Schwert für Töne in ihrem Hals und sie sendete damit Blitze kreuz und quer durch den Raum, und das Ende bekam ich nicht mehr mit, denn da saß ich unten hinter der Balkonbrüstung und hielt mir die Ohren zu aber die Augen offen, um ja nicht zu verpassen, wenn die Ausgangstüre aufging, durch die ich unversehrt zu entkommen hoffte. Selbst in „Star Wars“ habe ich mich nicht so gefürchtet, und das ist eine wirklich unheimliche Geschichte!

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Anfang einer Reise zum Meer

( …ein Märchen für kleine und große Menschen….)

– Sie funkeln aber ganz besonders strahlend!

sagte ein Wassertropfen zu einem anderen, der dicht neben ihm am selben Zweig eines großen Baumes hing.

– Danke, das haben sie nett gesagt, aber das ist sicher nur die helle, tief stehende Morgensonne…

erwiderte der angesprochene Wassertropfen und strahlte vor Glück noch ein bisschen heller.

– Ich liebe die Morgensonne,

fuhr er fort, um ja nicht den begonnenen Gesprächsfaden abreißen zu lassen,

– sie ist so wunderbar kühl. Die Mittagssonne zehrt schon arg an unseren schwellenden Formen. Man muss ja befürchten, schier zu verdampfen. Aber – wenn ich das sagen darf – von Ihnen geht so ein wunderbar tiefes Leuchten aus!

Der erste Tropfen, nennen wir ihn einfach „den Leuchtenden“, sagte darauf zum „Strahlenden“:

– Mir wird ganz schwindelig, wenn ich aus dieser Höhe von unserem Zweig herabblicke. Lange können wir uns wohl nicht mehr festhalten, wie ich merke. Wollen wir gemeinsam hinab springen?

Nun weiß jedes Kind, dass Wassertropfen von der Höhe nicht schwindelig wird!

So bleibt nur der Schluss, dass die Tropfen sich ineinander verknallt hatten und nun  bereits eine gemeinsame Zukunft planten, in dem sie ihre Reise zum großen Meer zusammen antreten wollten.

Dass diese Reise zum Meer führen würde, wussten sie zu diesem Zeitpunkt – wenige Minuten nach ihrer Geburt aus dem morgendlichen Tau hoch in der großen Eiche – natürlich noch nicht. (Es war schon erstaunlich genug, was der morgens geborene Wassertropfen über die Mittagssonne wusste.)

Dass das Meer das Ziel dieser Reise sein würde, wusste noch nicht einmal die große Eiche, die nun schon über 150 Jahre ihren Platz auf der Geländekuppe wenige Meter neben der Straße von Ulsenheim nach Seenheim behauptete. Sie ist in diesem Alter noch eine sehr jugendlich wirkende aber doch schon sehr stattliche Erscheinung, besonders durch die fast kugelförmige, schöne Krone.

Sie blickt von diesem Standpunkt am obersten Rand des Ehegrundes über ein weites, hügeliges Land bis hinüber zum Weinparadies.

Wenn Bäume, was wir nicht wissen, über ihre lange Lebenszeit ein Selbstbild von sich entwickeln sollten, dann muss sich diese Eiche wohl als Königin eines sanft gewellten Hügelreiches fühlen. Die „Königin des Oberen Ehegrundes“.

In ihrer hohen, noch winterlich kahlen Krone sind an einem weit außen stehenden Zweig heute morgen die beiden Tautropfen geboren und sogleich von der Morgensonne verzaubert worden.

Auch wenn die Eiche in diesem jungen Alter noch nichts vom Meer gehört hatte, so wusste sie doch schon sehr viel vom Leben – besonders von dem in ihrer näheren Umgebung.

So sprach die Eiche zu den beiden flirtenden Tautropfen, da sie ja nicht vermeiden konnte, deren Gespräch zu lauschen:

– Erlauben Sie, dass ich mich einmische, aber obwohl Sie zweifelsfrei – ganz im Gegensatz zu mir! – laufen, springen, fließen, kurz: sich fortbewegen können, ist es ein Irrtum, wenn Sie glauben, dies unterliege ihrem freien Willen.

Sie können leider nicht selbst bestimmen, wann Sie hinunter fallen wollen.

– Nicht?, fragte der Strahlende enttäuscht.

– Nein, und glauben Sie mir, es ist besser so!, bekräftigte die Eiche. Wenn jeder tun dürfte was er wollte, dann käme bestimmt nichts Gescheites heraus. Sie folgen in Ihrem Handeln einem höheren Gesetz und es ist keine Schande, dass sie das nicht wissen, denn Sie sind noch sehr jung!

– Danke für Ihr Verständnis, hauchte der Leuchtende sehr beeindruckt. Es wird uns eine Ehre sein, diesem Gesetz zu folgen.

– Noch etwas, setzte die Eiche hinzu: Aus der gemeinsamen Reise von hier aus wird leider auch nichts. Genau zwischen Ihnen läuft durch mein Reich (aha: also doch herrscherliches Bewusstsein!) eine Linie. Mann nennt sie die Wasserscheide.

Der Leuchtende blickte hinab und sagte:

– Ich sehe keine Linie!

– Das ist so etwas wie das höhere Gesetz, von dem ich sprach, das kann man auch nicht sehen. Es bedeutet folgendes:

Wenn ein Tropfen auf der einen Seite dieser unsichtbaren Linie auf den Boden fällt, macht er sich auf den Weg nach Osten und wird ein Stück weiter da unten als Ehebach wieder an die Oberfläche kommen, der weiter nach Osten fließt.

Der Tropfen, der auf der anderen Seite der Linie herab fällt, macht sich auf den Weg nach Süden und kommt bald als Seenheimer Mühlbach ans Tageslicht.

Das sind die Wege, die jedem von Ihnen bestimmt sind, je nach der Stelle, an der er im Reich meiner Astkrone das Licht der Welt erblickt.

– Schade, jammerte der Strahlende, der plötzlich immer größer und runder wurde, dabei noch heller als vorher erstrahlte und rief:

– Oh, ich kann  mich nicht mehr festhalten – leben sie wohl!

…und fiel hinab auf den Boden, in dem er sich – wie von der Eiche vorausgesagt, nach Süden auf den Weg machte.

– Schade, dass er jetzt schon gehen musste, sagte die Eiche. Ich bin noch nicht fertig. Das Leben ist sehr vielfältig und nie ganz genau vorher zu sehen.

– Wird das denn nicht alles von dem höheren Gesetz bestimmt, wie Sie gesagt haben?

  Eigentlich ja, aber wenn sehr viele Wassertropfen sich auf den Weg machen und Bäche und Flüsse bilden, gilt das Gesetz eigentlich nur für alle zusammen, und man kann nie ganz genau sagen, was mit dem einzelnen Tropfen geschieht.

– Aha!, sagte der Leuchtende, aber man merkte, dass er das nicht ganz verstanden hatte…

– Kurz und gut: es gibt für Euren gemeinsamen Weg noch eine Hoffnung.

– Oh ja?! stieß  der zurückgebliebene Tropfen hervor und leuchtete immer tiefer, weil auch er sich sichtbar immer mehr rundete.

– Erzähl, bitte, schnell!

– Es gibt weise Vögel, die viel herumkommen und wirklich alles in der Welt verstehen. Die besuchen mich manchmal und haben mir folgendes erzählt.

– Erzähl schneller, bitte! drängte jetzt der Leuchtende, weil er merkte, dass er sich nicht mehr lange an dem Zweig halten konnte.

– Der Strahlende wird auf seinem Weg nach Süden sehr bald in das Flüsschen Aisch gelangen. Das fließt auch nach Osten, wendet sich aber bald nach Nord-Ost, und irgendwann mündet dann der Ehe-Bach, in dem Sie reisen werden, auch in die Aisch. Wenn Sie noch eine Weile hier aushalten, kann es sein, dass Sie beide sich dort wieder treffen.

– Oh ja!, hauchte der Tropfen, leuchtete versonnen noch tiefer und schien sich wieder fester an den Zweig zu klammern – obwohl wir ja wissen, dass er das nun wirklich nicht kann. Aber vielleicht gibt es ja doch noch etwas über dem höheren Gesetz, was die Eiche noch nicht weiß. Denn für eine Eiche ist sie ja noch sehr jung…

Nun hat die königliche Eiche, wie eigentlich alle herrschenden Persönlichkeiten, leider auch einen kleinen Zug zur Grausamkeit!

Das kommt vermutlich von der Einsamkeit und Selbstbezogenheit, in der man als Solitär-Baum die Jahrhunderte ohne Gleichartige neben sich verbringt.

So sprach die Eiche weiter zu dem Tropfen, der sich eben neue Hoffnung gemacht hatte, den Strahlenden doch wieder zu sehen:

– Allerdings – es gibt auch immer noch eine dritte Möglichkeit.

– So?, murmelte der Leuchtende, hellhörig geworden durch den anderen Ton in der Rede der Eiche.

– Ja, wenn Sie zu Boden gefallen sein werden, und Ihren Weg zur Quelle des Ehebaches suchen, kann es sein, dass Sie an eine der Wurzeln  geraten, mit denen ich mich da unten im Erdreich festhalte.

Sieh an, dachte der Leuchtende, da hat die Eiche also sogar zwei Reiche, eins hier oben und eins da unten. Sagte aber nichts, um sie nicht von ihrer Erzählung abzulenken.

– Und wenn das passiert, fuhr die Eiche fort, saugen meine Wurzeln Sie auf und senden Sie wieder hier hinauf – aber diesmal im Inneren meiner Äste und Zweige. Dann werden Sie dabei helfen, dass meine Krone hier oben immer prächtiger und schöner wird – zusammen mit den Sonnenstrahlen, die Sie gerade noch genießen.

– Oh, wisperte der Leuchtende, das würde mir natürlich eine große Ehre sein – ach! ich falle! – danke für die Warnung!

…und fiel hinab.

Gut, dass der Tropfen wieder vergessen hatte, was die Eiche über seinen vermeintlich freien Willen gesagt hatte.

Da war nicht eine Wurzel unter der Eiche, es waren Millionen!

Geschickt, wie er sich einbildete, entkam er allen, auch wenn er oft schon gefährlich nahe einen starken Sog verspürte – und als er schließlich  in der Quelle des Ehe-Baches angekommen war, war er doch schon ziemlich stolz auf sich!

Als der Leuchtende nach vielfach schlängelndem Laufe des Baches zwischen Weidenbäumen durch Wiesen von einer Seite des flachen Tales zur anderen wechselnd erst einmal Krautostheim hinter sich gelassen hatte, ging es schneller zu Tale.

Dort erblickte ihn das Kätzchen, das um diese Tageszeit (bei schönem Wetter) immer in der Dachrinne der Remise an der Modelsmühle sitzt. Es kann von dort eine Stelle des Baches sehen, an der der Ehe-Bach munter durch eine Biegung des Bachbettes auf die Mühle zu springt. Es sah das helle Aufblitzen, als der Leuchtende durch die Bach-Schnellen eilte und musste dann sehr lange nachdenken, ob es vielleicht die Schuppen eines Fischleins waren, das sich damit abmühte, den Ehe-Bach hinauf zu schwimmen, und das ein willkommenes zweites Frühstück abgegeben hätte.

Dann blieb es aber sitzen, weil es – ganz richtig – meinte, dass es doch kein Fischlein gewesen sei und schlief wohlig in der Morgensonne ein.

Sonst sah niemand den Leuchtenden auf seiner Reise…

Als der Ehe-Bach erst einmal Sugenheim hinter sich gelassen hatte, war das Gewässer kräftig angeschwollen, es floss nun zwischen Erlen dahin, aber die Reise war nicht mehr so flott. Noch weiter talab, bei dem Weiler Ehe, schleppte sich schließlich das Flüsschen träge und trübe dahin.

Wenn unser Reisender nicht nur ein Wassertropfen gewesen wäre, sondern jemand mit Kenntnissen über das menschliche Leben, so hätte er durchaus eine Parallele feststellen können zwischen diesem Bachlauf und jener Ehe, die kein Bach ist…

Aber unser Reisender ist nur ein Wassertropfen, und ein frisch verliebter dazu! Also versteht er davon nichts.

Auch wenn er nun hier mit Trillionen von anderen Tropfen gemeinsam das träge zwischen wallenden Wasserpflanzen dahin gleitende Flüsschen Ehe bereist, so zweifelte er doch keine Sekunde daran, dass er den Strahlenden zwischen allen den anderen wieder erkennen würde, sollte er dort sein, wo sich der Ehe-Bach mit der Aisch vereinigen wird.

Plötzlich ist der Augenblick gekommen. Dies merkt der Leuchtende daran, dass sie alle nach links fortgerissen werden! Und tatsächlich. im gleichen Moment eilt – ja rast sogar – der Strahlende auf  ihn zu! Nur kurze Zeit, allerdings, fließen sie nebeneinander her, dann entfernt sich der Strahlende schnell wieder in eine dunkle Nische des Flussbettes.

In der kurzen Zeit, in der der Strahlende ihn begleitete, hatte er folgendes eilig hervorgesprudelt:

– Ein Wirbel – ich sitze hier schon länger fest – immer im Kreis! Ein Fisch namens Lachs hat mir erzählt, dass wir alle zum Meer wandern. Dort treffen wir uns wieder.

– Warte dort auf mich!, rief er noch, als er sich wieder entfernte.

Dann waren sie wieder auseinander gerissen.

Die anfängliche Enttäuschung des Leuchtenden wurde bald durch die Gewissheit verdrängt, die die Worte des Strahlenden über ein Wiedersehen im Meer geschaffen hatten.

Er würde den Lachs genauer befragen, wenn er ihn treffen sollte.

…aber das, und die Frage, ob es Lachse in der Aisch gibt, ist eine andere Geschichte, wie ein Kollege von mir hier sagen würde, und was man besser wirklich nicht sagen kann!

Solltet ihr aber Zweifel haben, ob die ganze Geschichte denn stimmt, dann hört euch bitte einmal das Orchesterwerk „Die Moldau“ von Friedrich (Bedrich) Smetana genau an:

Bevor man dort hört, wie das Rinnsal zum Bach, der Bach zum Fluss und der Fluss zum Strom wird, der zum Meer strebt – ganz am Anfang des Musikstückes – hört ihr, wie im stillen, feucht-dampfenden Wald die Wassertropfen von den Bäumen auf den Blätter- oder Grasteppich darunter fallen und dann im Waldboden zur Quelle sickern… nur dass die Quelle in dieser Musik die Quelle der Moldau ist, in Böhmen, der Heimat von Smetana, dem heutigen Tschechien, und nicht die Quelle des Ehe-Baches.

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Dartmoore Inn

Ich habe keine Ahnung, wer gewinnt …

Ich bin in Erlangen – ein Abend in einer Stadt, die nicht meine Stadt ist, aber auch nicht ganz fremd… in gewisser Weise sogar meine zweite Geburtsstadt … und Geburtsstadt einer unserer Enkelinnen.

Erlangen verdankt fast alles, was es ist, drei großen, einschneidenden Ereignissen:

  • Der Aufnahme einer sehr großen Zahl von französischen Flüchtlingen auf einen Schlag im 17.Jh, für die dann extra vom Staat eine neue Stadt neben der alten Stadt gebaut wurde;
  • Die Verlegung der Universität kurz nach ihrer Gründung von Bayreuth nach Erlangen;
  • Die Verlegung des Hauptsitzes der Firma Siemens von Berlin nach Erlangen.

Ich habe die Jahreszahlen dieser Ereignisse alle im Kopf – erspare sie Euch aber, damit Ihr nicht auch mit soviel Müll im Hirn herumlaufen müßt.

Es gibt ein viertes Ereignis, von dem ich unsicher bin, ob man es nicht auch dazu zählen sollte: der große Brand, der die Altstadt zerstörte, so dass  man sie „modern“ wieder aufbauen konnte. Chicago hat das – langfristig – auch nicht geschadet… Dadurch ist Erlangen wohl weltweit die einzige Stadt, deren Altstadt NEUER ist als die Neustadt!

Ihr könnt jetzt den Rest des Tages darüber nachdenken, was uns das sagen will – aber bedenkt: es ist, wie es ist. Nur eines steht fest: Erlangen hat gewonnen!

Ich schlendere durch die baumlosen Gassen der Neustadt. Jetzt müßte ich mal etwas herzhaftes essen – man braucht eine Grundlage… für die Nacht in so einer Stadt!

Ich gehe in die nächst-beste Kneipe: es ist der „Dartmoore Inn“.

Die Kneipe ist rappel-voll. Wie durch ein Wunder finde ich fast ganz hinten am Tresen einen gemütlichen Platz, den ich mir mit einer mächtigen hölzernen Säule teilen darf.

Hinter mir brüllt jetzt einer unentwegt etwas , das ich wegen der großen Lautstärke nicht verstehe. Ich drehe mich um: da ist keiner, nur ein riesiger Flachbildschirm hängt an der Wand, auf dem Hoffenheim gegen Dortmund spielt – und ich habe keine Ahnung, wer gewinnt…

Diagonal entgegengesetzt in der anderen Ecke brüllt noch so ein Bildschirm – den kann ich aber nicht sehen, weil da aus meiner Sicht zwei Holz-Säulen davor stehen. Auf dem läuft glücklicherweise wenigstens dasselbe Programm (hätte schlimmer sein können…).

Ich preise den Zufall, dass ich in dieser Kneipe den offensichtlich einzigen Platz gefunden habe, von dem aus man BEIDE Bildschirme nicht sieht. Freue mich!

Es dauert noch eine ganze Weile, bis ich merke: das ist gar kein Zufall, denn dies ist eine FUSSBALL-KNEIPE. Auch gut – ich freue mich weiter.

Das Dartmoore Inn hat eine fulminante Currywurst-Karte mit 5 Currywurst-Varianten. Ich vermute, dass der Wirt ein gebürtiger Berliner ist. Ich frage ihn. Es stimmt.

Ich bestelle ein Murphy’s Stout. Die meisten Gäste trinken allerdings bayerisches Landbier, oder Veltins. Fußballfans eben.

Ich bestelle eine Currywurst mit einer exotisch-variierten Sauce und freue mich auf das Essen, denn ich liebe das Abenteuer.

Das Stout kommt und ist so tief-schwarz, wie ich es erwartet habe und schmeckt… wie Stout.

Inzwischen ist die Kneipe noch VIEL rappel-voller geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass da so viele Leute rein gehen. Gut für die Rente des Wirts. Das Dartmoore wirbt auch damit, dass dort Dart gespielt werden kann. Mir ist schleierhaft, wie man bei dem Gedränge noch Dart spielen kann, ohne dass es zu Verletzungen kommt. Passenderweise liegen aber auch mindestens sieben große Kliniken in unmittelbarer Nachbarschaft…

Es werden überall Zettel und Stifte verteilt. Es stellt sich heraus: es wird heute Abend Kneipen-Quiz geben. Der Wirt ist der Quiz-Master.

Die Curry-Wurst kommt … sogar ziemlich zügig. Was auf dem Teller liegt, nimmt mich vollständig ein – und ich nehme es vollständig ein: prachtvoll – alles.

Zwei junge Leute neben mir versuchen, mich für ihre Quiz-Gruppe anzuwerben – in der vermutlich nicht ganz irrigen Annahme, dass jemand der so stein-alt ist wie ich, schon irgendetwas wissen wird!

Ich bin noch nie in einen Verein eingetreten (außer in die Deutsche Physikalische Gesellschaft) aber ich sage ihnen zu, dass ich es ihnen exklusiv zustecken werde, sollte ich etwas wissen. So geschieht es in der ersten Quiz-Runde. Die beiden versuchen mich mit Freibier zu bestechen, damit ich bleibe – aber das dritte Stout hätte genauso geschmeckt, wie das erste.

Ich brauche öfter was Neues… Ich gehe – und habe wieder keine Ahnung, wer gewinnt… Aber ich habe hier etwas Neues kennenglernt: hätte ich vorher gewußt, dass es eine Fußballkneipe ist, wäre ich nicht rein gegangen. Nun würde ich ins „Dartmoor“ immer wieder rein gehen! Also: ICH habe gewonnen!

Aphorismus des Tages: „Wissen kann auch hinderlich sein!“ (Der Brandenburger Tor)

 

© Der Brandenburger Tor, 16. Dezember 2017, Herbert Börger

Ernstchens Schuhe

Ernstchen ist vier Jahre alt, es ist wieder Frühling und er braucht für die nun kommende wärmere Jahreszeit neue Schuhe.

Nicht dass die alten Schuhe verschlissen+kaputt+abgelaufen wären … nein, sie stehen fein säuberlich im Kellerregal, ihre Nähte sind nicht durchgescheuert, die Sohle ist kaum verschlissen. Ganz deutlich sieht man noch das Elefanten-Logo und die 24 im Kreis. Ernstchens Füße sind seit dem Spätsommer so gewachsen, dass er nun in die Schuhe nicht mehr hineinpasst.

Ernstchens Eltern geben sich sehr viel Mühe bei der Aufzucht ihres kleinen Sohnes  (was absolut typisch für den sog. oberen Mittelstand sein soll). Vermutlich haben sie auch bewusst nur ein Kind haben wollen, um diesem alle Chancen im Leben bieten zu können. Ernstchen ahnt noch nicht, was dies für ihn bedeuten wird – jetzt ist er einfach noch ein freundlicher, im Wesen eher zurückhaltender, niedlicher, kleiner Kerl, der – wie gesagt – neue Schuhe braucht.

Für ein kleines Kind sucht meistens die Mutter die Kleider und Schuhe aus, zweckmäßig und von guter Qualität – und natürlich müssen die Sachen der Mutter gefallen – das heißt: Ernstchen muss der Mutter in den Sachen gefallen. Bisher.

Da nun Ernstchens Eltern sich sehr viel Gedanken um die Entwicklung ihres  Kindes machen, soll sich das nun ändern… Die Eltern haben – gemeinsam – einen Entschluss gefasst und dieser lautet:

Ab jetzt sucht sich Ernstchen seine Schuhe und Kleider selbst aus!

So fanden sich also Ernstchen nebst Eltern aus bedeutungsschwangerem Anlass in der best-sortierten Kinderschuhabteilung der Innenstadt wieder, nicht etwa in so einem Billigschuh-Tempel auf der grünen Wiese, denn Ernstchen brauchte nun natürlich die beste Beratung, die zu kriegen war!

Ernstchens Mutter verpflichtete die Verkäuferin, die ihr am erfahrensten erschien, zu dem bevorstehenden Fron-Dienst. Routiniert blickte diese unter die Winterstiefelchen, die Ernstchen inzwischen ausgezogen hatte und stellte den erstgeborenen Sproß, der noch nicht ahnte, welche Erwartungen auf ihm lasteten, auf das Fußmessgerät. Sie verkündete:

„Größe 26, schmaler Fuß – gut dass Sie so früh im Jahr gekommen sind, im April sind die alle ausverkauft!°

Ein weises, selbstzufriedenes Lächeln umspielte den Mund von Ernstchens Mutter, die nun der Verkäuferin das Projekt erläuterte.

Deren Augenbrauen hoben sich zwar fast demonstrativ, aber professionell sagte sie „Na, dann wollen wir mal…“ mit nur sehr leicht ironischem Unterton.

Erster Akt:

Die Mutter nimmt mit Ernstchen an der Hand die Parade der  Schuhe in den Regalen ab, die nach Information der Verkäuferin für Ernstchens Schuhgröße in Frage kommen. Ernstchen ist aufgefordert, auf die Schuhe zu zeigen, die ihm gefallen. Am Ende des Regals hat Ernstchen auf  k e i n e n  einzigen Schuh gezeigt…

Zweiter Akt:

Die Mutter erläutert Ernstchen freundlich, dass er sich jetzt ja noch nicht entscheiden muss, sondern dass er alle ausgewählten Schuhe noch anprobieren wird!

Sie nehmen erneut die Parade der Schuhe im Regal ab, wobei die Mutter dem Sohn bei jedem Schuh eindringlich dessen Vorteile preist und fragt, ob er den einfach unverbindlich anprobieren möchte.

Mutter und Sohn kommen mit  a l l e n  Schuhen, die im Regal gestanden hatten, zum Anprobestühlchen zurück. An die Verkäuferin ergeht die Weisung, diese alle in Ernstchens Größe zu holen!

Dritter Akt:

Nach einer Viertelstunde hat es die Verkäuferin geschafft, die Hälfte der Schuhe als Kandidaten auszuschließen, da wider erwarten – trotz des gepriesenen frühen Erscheinens der Eltern – die Größe nicht mehr da sei bzw. dieser Hersteller den schmalen Fuß nicht als Marktnische betrachte….

Die Mutter schlägt ein erstes Paar zur Anprobe vor und bittet Ernstchen, dieses anzuziehen – und zwar selbst und ohne Hilfe, damit man gleich sieht, wie er mit dem Verschluss zurecht kommt!

Als Ernstchen die Schuhe schließlich an hat, hat die Verkäuferin in der Zwischenzeit einer anderen Kundin je ein Paar Schuhe für Tochter und Sohn verkauft, verpackt und abkassiert.

Ernstchen geht – klapp-klapp – mit den ungewohnt steifen, ungewohnt großen Schuhen herum und stolpert über jede Ritze im Parkett. Er blickt ratlos auf die Schuhe an seinen Füßen und lässt sich zu keiner verbindlichen Aussage nötigen.

„Die lassen wir mal in der engeren Wahl“ – mit dieser verräterischen Äußerung stellt die Mutter das Paar zur Seite…

Vierter Akt:

Kartons und Schuhe stapeln sich um Ernstchen herum. Inzwischen ist man dazu übergegangen, dass die Verkäuferin nach stummem, ratlosem Kopfschütteln oder Schulterzucken des Kindes diesem die Schuhe wieder auszieht und die Mutter sofort ein neues Paar Schuhe auf Ernstchens Füßen befestigt, worauf dieser wieder herumstolpern darf…

Inzwischen hat Ernstchen herausgefunden, dass er die danach folgende Beratungsphase über jedes Paar Schuhe wesentlich verkürzen kann, wenn er kooperiert und in bestimmtem Ton verkündet, dass dieser vorne drücke, jener hinten reibe oder schlüpfe, der nächste überhaupt keinen Halt biete!

Beim letzten Paar erscheint jene Panik auf dem Gesicht der Mutter, die alle Eltern befällt, wenn ihr hoch gepriesener Nachwuchs anscheinend nicht die Erwartungen erfüllt…

Auch die Verkäuferin sieht nun nicht mehr so wie aus dem Ei gepellt aus…

Und der Vater?

Als typischer Steinzeit-Jäger streift er – nach dem beiläufig gemurmelten Hinweis, er wolle sich umsehen, ob nicht doch noch etwas übersehen worden sei – durch den Laden. Nahe genug, um von der Szene nicht zu verpassen, aber so weit entfernt, dass er nicht unmittelbar mit dem Geschehen in Zusammenhang gebracht werden kann – typisch Mann!

Fünfter Akt:

Jetzt wäre es eigentlich Zeit für Mutters

„Karl-Heinz, jetzt sag Du doch mal!“

gewesen… da begegnet Ernstchens um Hilfe flehender Blick dem seines Jäger-Erzeugers.

Der Vater macht eine auffordernde Kopfbewegung, worauf der Spross sich humpelnd zu ihm in Bewegung setzt, links eine blau-rosa geringelte Socke rechts ein klobig wirkender halbhoher Schuh mit blau glänzender Kappe, mattgrünem Schaft und einer riesigen roten Schnalle quer darüber.

Vater geht in die Hocke und fragt: „Ist denn gar keiner dabei, der dir gefällt?“

Schulterzucken bei Ernstchen.

„Kannst du denn sagen, welche Schuhe dir gefallen würden?“

„Ja, aber die haben sie hier ja nicht…!“

„Und wie sehen die aus?“

„So, wie die, die Opa immer im Garten an hat.“

Copyright 2006, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Es fährt noch ein Zug von der Gare de l’Est

oder: Train-A-Grand-Vitesse-Déprimé

(Motto: so ein Zug ist ja schließlich auch nur ein Mensch!)

Eigentlich fährt natürlich ständig ein Zug von der Gare de l’Est, besonders nach Deutschland – und mittlerweile: was für Züge! SuperHochgeschwindigkeitszüge (im Nachbarland Train a Grand Vitesse = TGV genannt).

Aber auch deutsche! – die 400 km/h und mehr erreichen können und dabei sanft und leise dahin schweben – wenn sie dürfen!

Leider ist die Fahrt von Paris nach Mannheim für den deutschstämmigen Superzug eine geradezu erniedrigende Prozedur!

Kaum ist der Rand der Ile de France erklommen, geht der Zug schnurstracks auf Höchstgeschwindigkeit und gleitet mit grandioser Fahrtruhe seinem Heimatland entgegen.

Dafür haben unsere westlichen Nachbarn extra eine gerade Linie mit dem Lineal von Paris bis ins Lothringen nördlich von Metz gezogen und dann auf der Linie entlang ein neues Gleis ohne Haltestelle gebaut. Das scheint dem weißen Pfeil auf Schienen mächtig zu behagen.

Als erfahrener und technikverliebter Reisender blicke ich mich jetzt erwartungsfroh um, da ich gerne wüsste wie schnell der jetzt unterwegs ist.

Da sind zwar hochmoderne elektronische Anzeigetafeln mit roter Schrift an beiden Wagenenden, aber die geben in winziger Schrift, die man vom Sitzplatz ohnehin nicht lesen kann, ständig nur bekloppte Reservierungs-Hinweise, die der, der hier im Zug sitzt, jetzt gerade nicht braucht, denn sonst säße er ja nicht hier…!

Kaum aber ist das grandiose Vehikel in Lothringen – wahrscheinlich eine Strafe für die teilweise deutsche Vorgeschichte – auf einen Schleichgang abgebremst worden, erscheint plötzlich doch noch in riesigen Lettern weithin sichtbar auf dieser Tafel: 125 km/h !!! Erstaunlich, ich hätte jetzt 60 km/h geschätzt…

Noch einmal beschleunigt das weiße Phantom mächtig – prompt erscheint in der Anzeige wieder Kleingedrucktes. Erst als wir gemächlich nach Saarbrücken hinein bummeln, freut sich die Großanzeige wieder über sagenhafte 100 km/h.

Hier keimte bei mir der Verdacht auf, es könnte durchaus dies quasi eine Demonstration von systemkritischen Programmierern mit Zugang zum Anzeige-System darstellen, die jedem, der bereit ist das wahrzunehmen entgegen schreit: sieh nur – in diesem Bummeltempo ist Euer Land in die Zukunft unterwegs, und in nicht ferner Zeit wird die Zukunft über euch hinwegbrausen, so wie dieses weiße Phantom über die triste Landschaft der Champagne!

Herr Mehdorn würde dies wahrscheinlich nicht bemerken, selbst wenn er im Zug säße, denn er weiß das ja schon und er würde sich eben darüber freuen, wie elegant sein Geisterzug durch Frankreich huschen kann.

Nun finde ich eine derartige zukunftspolitische Demonstration gar nicht schlecht, hätte da aber noch einen eigenen Vorschlag parat:

man nutze die Anzeige, die ja den größten Teil der Fahrtzeit eher ungenutzt ist, um auf ihr kurze Gedichte und Aphorismen  anzuschreiben – gerne auch für den Reisezweck passend umgedichtet:

„Ich setzte

meinen Fuß

in den Zug –

– und er trug!“

(Sorry, Hilde!)

oder

„Ein Zug ist ein Zug ist ein Zug“

Aber vielleicht ist das zu teuer, wegen der fälligen Tantiemen an die Dichter und ihre Erben…. Und der garantiert tantiemefreie Ovid ist eben lateinisch.. und nicht ganz jugendfrei.

(Aber falls doch Interesse besteht: ich habe als Gymnasiast eine fabelhafte Ovid-Übersetzung verfasst – in Hexametern! – die hätte ich günstig abzugeben.)

Es folgt, was man schon ahnte: nach ausgiebigem Halt in Saarbrücken – wahrscheinlich darf nur ein Lockführer der passenden Nation jeweils den Wachhalte-Knopf im Leitstand drücken – schaukelt uns der Schienen-Potenzprotz für den Rest der Reise durch idyllische, heimische Täler und Auen.

Das gezügelt dahin gleitende Schienen-Ungetüm träumt jetzt wahrscheinlich schon wieder von der Rückfahrt, wenn es wieder wie ein Pfeil über die karge Champagne- und Marne-Landschaft fliegen darf.

Für mich hielt die elektronische Anzeigetafel allerdings noch eine kleine Gemeinheit parat: als ich kurz vor Saarbrücken aufblickte, stellte die Anzeige in großen Lettern gerade die Frage:

„Haben Sie auch nichts vergessen?“.

Kurz darauf erschien – für das Volk der französischen Analphabeten eingebettet zwischen Piktogrammen eines Koffers und eines Regenschirmes: „Oublié quelle-que chose?“

Das war natürlich an die gerichtet, die – überrascht über die kurze Fahrt und halb besoffen jetzt gerade noch rechtzeitig aus dem Bord-Bistro torkelten und in Saarbrücken ohne ihr Gepäck aussteigen wollten.

Anstatt dessen durchfuhr es mich siedend heiß: am letzten Tag in Paris hatte ich mein Gepäck im Hotel deponiert, um es auf der Metro-Fahrt zum Bahnhof bei einer kurzen Unterbrechung in St.Germain-des-Prés dort abzuholen. Und das hatte ich vergessen!

Die ganze Zeit des Aufenthaltes im Bahnhof von Saarbrücken redete ich auf den Schaffner ein, er möge den Lokführer zur Umkehr bewegen, um mein Gepäck noch aus dem Hotel abzuholen. Ich ließ erst nach der Weiterfahrt von ihm ab, da mir auch klar war, dass der Zug nicht auf offener Strecke umdrehen konnte.

Im Augenwinkel sah ich noch, dass er danach sofort zum Telefonhörer griff, und ich befürchtete schon, dass in Kaiserslautern einige Pfleger in weißen Anzügen am Bahnsteig stehen würden. Zeit genug wäre ja gewesen, um sie zu mobilisieren… Aber ich hörte dann, dass er doch nur seine Frau anrief, sie möge ihm schon mal einen Melissentee kochen, heute seien wieder lauter Bekloppte im Zug unterwegs!

Kurz vor Mannheim wache ich auf, als wir durch Ludwigshafen ruckelten.

(Bitte: das heißt jetzt „Metropolregion Rhein-Neckar“ – sic! Ob jemand den mittelhochdeutschen Stabreim gemerkt hat? Vielleicht eine beabsichtigte Erinnerung an die Nibelungen?).

Der Blick nach oben offenbarte mir erleichternd die Anwesenheit meines Koffers – verursacht die extrem hohe Reisegeschwindigkeit vielleicht doch schlechte Träume?

Als ich meinen zentnerschweren Trolley zum Ausgang zerre, angelsächselt die Anzeigetafel ironisch auf mich ein:

„Your Luggage?“

(O Sanctus Globalinius!)

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Ein Top-Manager im Supermarkt

Ein Kurzroman

MB ist Vorstandsvorsitzender eines stattlichen mittelständischen Konzerns.

Für die, die mit dem Berufsbild des Vorstandsvorsitzenden nichts anzufangen wissen: es ist eine Position, die 10.000 anstreben, aber nur 250 erreichen können. Die außerordentliche Bedeutung, derer sich der Inhaber dieser Position gewiss sein kann, wird mit dem Verlust eines so genannten „normalen Lebens“ bezahlt, dafür gibt es Schmerzensgeld….

Die Samstagvormittags-Sitzung war kurzfristig vom Aufsichtsratsvorsitzenden abgesagt worden.

MB war sozusagen ohne festen Termin oder konkretes Vorhaben „zuhause gestrandet“. Dass irgendwo in ihm noch Reste des früheren „normalen“ Lebensgefühles schlummerten, sehen wir daran, dass er nicht sofort auf den nächsten freien Golfplatz flüchtete, sondern bei einem improvisierten Frühstück seiner besseren Hälfte vorschlug:

– Lass uns gemeinsam etwas unternehmen, wir haben ja immer viel zu wenig Zeit für einander!

Die teure Gattin war leicht verwirrt über den unerwarteten Ausbruch von Privatleben bei ihrem Mann, blickte ihm liebevoll ironisch in die Augen und erwiderte:

– Das ist lieb gemeint, Mausebär, du hast zwar nichts zu tun, aber heute Abend haben wir sechs Gäste, wie du sicher noch weißt, und da bin ich den ganzen Tag generalstabsmäßig ausgelastet.

Ursprünglich, nein – auch heute noch – hasste sie diese „Militarismen“, aber sie setzte sie heute gezielt ein, um ihren Mann zu beeindrucken, der nun leichthin einwarf:

– Was musst du denn tun? Warum machst du das alles selbst?

– Das Schicki-Micki-Zeugs kommt mir nicht über die Schwelle! Entweder koche ich selbst oder ich lade gar keine Gäste ein. Und was den Arbeitsaufwand betrifft: wenn Angestellte alles das, was ich tue, zu dem Zeitpunkt tun sollten, an dem es getan werden muss, brauchten wir sechs Dienstboten. Wir leben ja nicht mehr im Feudalismus. Das ist ganz ähnlich wie in deinem Job – wenn lauter normale nine-to-five-Angestellte eine Entscheidung treffen müssten, die du alleine in 15 Minuten schaffst, würde ein Stab von 30 Leuten drei Tage brauchen – und die wären sich dann wahrscheinlich immer noch nicht einig…

Wenige Manager in seiner Position kamen in den Genuss der Situation, dass ihre Partnerin sie nach 30 Jahren noch  überraschen konnten, da diese dann inzwischen längst durch weniger bodenständige aber dafür 20 Jahre jüngere Exemplare ausgetauscht worden waren.

Dass sie den vielleicht wesentlichsten Aspekt seiner beruflichen Funktion so treffend in einem Satz zusammenfassen konnte: es wirkte fast schon brutal, als ob jemand plötzlich ein jahrzehntelang sorgsam gehütetes Geheimnis enthüllt und sich die Maske herunter reißt.

Blitzartig schlüpfte die kluge Ehefrau aber wieder zurück in Ihre ihre angestammte Rolle, übersah geflissentlich seinen verwirrt-überraschten Gesichtsausdruck und sagte nur leichthin:

– Um drei kommt Elena und hilft mir beim Kochen. Jetzt muss ich erst einmal einkaufen fahren.

Da ging ein Leuchten über das Gesicht des Vorstandsvorsitzenden Mausebär:

– Aber das kann ich dir abnehmen, Hildchen! stellte er fest. Es klang nicht wie eine Frage oder ein Vorschlag – eher wie die ihm so geläufigen Anweisungen im Geschäftsumfeld.

Wie sie dieses „Hildchen“ hasste. Es passte überhaupt nicht zu ihrem Selbstverständnis. Aber um das „Hildchen“ zu verhindern, hätte sie sich vor 30 Jahren dagegen wehren müssen. Seit Jahrzehnten war sie bei Familie und Freunden eben das Hildchen, die kluge, starke Frau, die jeden Anschein der Überlegenheit vermied. Sogar der Aufsichtsratsvorsitzende Blaufelder hatte schon gesagt:

– Hildchen, Sie sind vielleicht der größte verborgene Schatz unseres Unternehmens! (Was auch immer damit gemeint haben mochte…) Das Hildchen klebte an ihr wie ein Markenzeichen.

Wenn sie nun noch länger diskutiert hätte, wäre ihr Zeitplan gefährlich ins Wanken geraten, also spielte sie mit:

– Gerne, Mausebär, du bist ein Schatz.  Wahrscheinlich brauchst du länger als ich und es wird sicher auch teurer, aber Zeit hast du ja heute und auf fünfzig Euro kommt es wirklich nicht an.

Sie wusste hinterher auch nicht mehr, warum sie diese Spitze einfließen ließ – das musste ihn verletzen, aber vielleicht, dachte sie, spornt es ihn ja auch an.

Der Herr über Milliarden hätte Probleme mit dem 300-Euro-Einkauf des nicht so ganz alltäglichen Bedarfes…? Natürlich würde er die bekommen – wann war er überhaupt zum letzten Mal in einem Supermarkt gewesen? Noch zu DM-Zeiten? Aber sie wischte bewusst alle Bedenken hinweg, denn sonst würde er hier noch länger herumsitzen und sie von der Arbeit abhalten. Die gewonnene Zeit würde sie in eine besonders schöne Präsentation der Mahlzeit für die wichtigen Geschäftsfreunde investieren.

– Hier ist der Zettel. Ich gebe dir 500 Euro mit – du wirst wohl höchstens 350 brauchen.

Entrüstet schob er das Geld zurück. Das fehlte noch: wie ein Schulbub, der von Mutti zum Einkaufen geschickt wird.

– Das zahle ich natürlich selbst!

– Hast du Bargeld dabei?… Natürlich nicht. … Mit deinen Kreditkarten kannst du im Supermarkt nicht zahlen, und die Geheimnummer deiner privaten EC-Karte weißt du wohl nicht auswendig!

– Nein, da rufe ich immer Frau Geier an.

– Jetzt nimm das Geld und fahre los, sonst wird es zu spät für den Fisch!

Mausebär machte sich auf den Weg: nicht ohne vorherige Einweisung durch Hildchen in den umfänglichen Einkaufszettel und ihre eindringliche Ermahnung, als-erstes-sofort-zur-Fischtheke zu eilen, da dort gestern wegen begrenzter Liefermengen keine festen telefonischen Vorbestellungen mehr angenommen worden waren.

Zwar hatte ihm Hildchen empfohlen, ihren kleinen Wagen für diese Tour zu benutzen, doch er hatte keine Ahnung, wie man zum Ruhr-Einkaufszentrum kommt, so dass er seinen großen Dienstwagen alleine wegen des Navigationssystems benutzen musste.

Hildchen hasste „Navis“ – und zwar hauptsächlich wegen der Frauenstimme, die die Routenanweisung gab. Sie hatte damals gesagt, als er sein erstes Navi hatte:

– Die passt wirklich gut zu eurer Generation: sanft, duldsam und immer bereit!

Später einmal, als sie am Tegernsee zu einem Restaurant neben der eingegebenen Route abbogen und die Stimme zum dritten Mal sanft gemahnt hatte:

– Wenn möglich, bitte wenden…

sagte Hildchen:

– Hacke ihr doch mal den Fuß ab, würde mich interessieren, was sie dann sagt!

Das hatte ihn regelrecht geschockt.

Nun gut, das war damals nach der Operation, von der sich Hildchen so langsam erholt hatte. Da war sie oft gereizt erschienen. Er hatte sie ihr ganzes gemeinsames Leben lang immer als grenzenlos stark und belastbar  erlebt. Glücklicherweise war ihre Stärke dann auch im vollen Umfang wieder zurück gekommen. Das war der Verdienst einer medizinischen Koryphäe, zu der Hildchen fast ein Jahr lang alle 14 Tage nach München zur Behandlung gefahren war. Eine Empfehlung ihrer Freundin Emma. Danach war sie wieder ganz das „Alte Hildchen“ geworden, um die alle ihn  so beneideten.

Es war schon richtig: er selbst mochte diese Frauenstimme seines Navis sehr gerne. Natürlich hätte er auf der 20. Fahrt zum Achensee auch ohne Navi hingefunden, aber es hätte ja eine Stauwarnung geben können….

Oft schaltete er das Navi sogar ein, wenn er aus der Tiefgarage des Büroturmes, der sein „Reich“ war, nach Hause fuhr – natürlich nur, wenn niemand dabei war…

Im Job stand er ständig unter Höchstspannung, was dadurch zu rechtfertigen war, dass am Ende etwas dabei herauskam! Daneben sehnte er sich im privaten Bereich nach grenzenloser Harmonie und Nachsicht…

Auch wenn man sich zum fünften Mal entgegen der Anweisung verfahren hatte, sagte die Stimme immer noch sanft und geduldig: „Wenn möglich, bitte wenden“ und nicht etwa: „kannst du denn gar nichts richtig machen?“.

Was war falsch daran?

Was an der Benutzung des S 500 falsch war, merkte er sofort, als er auf den riesigen aber proppen-vollen Parkplatz des Einkaufszentrums einbog: die Wagenklasse war dort nicht vorgesehen!

Warum hatte er Hildchen eigentlich nie gesagt, dass man die Stimme im Navi auch abschalten konnte?

Neidvoll sah er die Frauen in ihren Kleinwagen in die freiwerdenden Plätze hinein kurven. Sogar in den Durchfahrtgassen war er ein Verkehrshindernis. Als dann so eine sture Ziege einfach stehen blieb, musste er mit seinem Schlachtschiff auch noch zurücksetzen, wobei er um ein Haar einen KA zerquetscht hätte. Die ausnehmend attraktive Fahrerin funkelte ihn an wie ein aufgeklapptes Rasiermesser. Längst war ihm der Schweiß ausgebrochen.

Fluchtartig verließ er den Parkplatz, nicht ohne sich an der Ausfahrtbegrenzung eine hörbar hässliche Schramme in die rechte Tür zu ziehen.

Er fand in der Nachbarschaft den leeren Parkplatz einer Autoreparaturwerkstatt. Dort stellte er den Wagen eiligst ab – konnte sich aber nicht des Gedankens erwehren: Hoffentlich ist es nicht die Niederlassung eines einschlägigen osteuropäischen „Abschlepp-Dienstes“. Dann hätte ich Ihnen das Sahnestück ja auf dem Tablett serviert.

Fußwege gab es hier nicht. Er musste sich über die Fahrstraße in großem Bogen dem Einkaufszentrum nähern. Schließlich durchquerte er eine wild wuchernde Wiese zwischen Straße und Parkplatz. Das lange Gras war nass.

Sein Handy meldete sich jetzt. Hildchens besorgte Stimme: „Hast du den Fisch schon?“ „Natürlich – mach` Dir keine Sorgen! Ich komme prima klar!“ log er.

„Du bist wirklich ein Schatz. Jetzt kannst Du Dir Zeit lassen. Trink mal einen Kaffee.“

Er verstand sich nicht mehr: Er fühlte sich mies nach dieser Notlüge, die er ohne Not gebraucht hatte. Offensichtlich hatten ihm diese kleinen Missgeschicke  in einer einfachen Situation des realen Lebens sein gewohntes Selbstbewusstsein geraubt. Eine Konstellation ungewohnten Kontrollverlustes, mit der er nicht spontan umzugehen wusste. Er verhielt sich wie ein beim Mogeln ertappter Schüler.

Bei dem Telefonat mit Hildchen hatte er nicht auf den Boden geachtet und war mit seinen 400-Euro-Schuhen mitten durch eine schlammige Pfütze gestapft.

Jetzt stand er am Rande des großen Parkplatzes, atmete kurz durch und blickte über hunderte geparkte Autos zum Eingang des Einkaufszentrums hinüber.

Merkwürdigerweise erinnerte er sich in dieser Situation an den Anfang seiner Karriere, als er am Morgen seines ersten Arbeitstages unten vor der Konzernzentrale stand und zur Vorstandsetage im obersten Stockwerk hinaufblickte. Das war sein Ziel von Anfang an – und das hatte er erreicht, schneller als er damals gedacht hatte – und das, obwohl er gerade nicht immer ausschließlich seine eigene Karriere im Sinn hatte.

Für ihn war es immer sinnlos gewesen, sich für das Unternehmen zu engagieren, ohne dass die Mitarbeiter insgesamt davon profitierten. Es fiel ihm leicht, sich in deren Situation zu versetzen. Schließlich war er eigentlich auch nur ein Mitarbeiter – abhängig von den Wächtern des Kapitals.

Das war die Voraussetzung dafür, dass ihm nun über Jahrzehnte ein legendär gutes Verhältnis mit der Arbeitnehmerseite nachgesagt wurde – zu recht, wie er wusste. Das ist eine Position, die es manchmal enorm erleichterte sehr schwierige Entscheidungen durchzusetzen –  ein Vorteil, den die Kapitaleigner in seiner Person außerordentlich zu schätzen wussten.

Er ging nichts an, was nur durch verlustreiche interne Schlachten zu erreichen war. Danach musste man unter erheblichem Zeitverlust die internen Wunden kurieren – was oft mehr Kraft kostete als die ehrgeizigsten Ziele rechtfertigen konnten.

Er liebte die Schlacht im Markt – und die gewann er meistens, weil seine Mannschaft wie eine Mauer hinter ihm stand. Daher fühlte er sich „unverwundbar“.

Auch wenn seine Ansichten zeitweise denen der Kapitaleigner entgegenstanden, so erhielt er letztlich doch immer die Unterstützung des Aufsichtsrates – bisher jedenfalls.

Als der „Unverwundbare“ schließlich im Eingangsbereich des Einkaufszentrums stand gab er folgendes Bild ab:

Die Maß-Schuhe waren von  Schlamm verkrustet, Socken und Hosenaufschlag feucht und bespritzt. Er war verschwitzt und einzelne Haarsträhnen standen im vom Kopf ab. Die Brille beschlug so stark, dass er sie eine Zeit lang abnehmen musste.

Und er stand unter Zeitdruck – ohne die geringste Vorstellung, wo die Fischtheke im Supermarkt zu finden sein würde.

Er verstand nichts vom Einzelhandel, aber er ging davon aus dass so ein Großmarkt nicht von einem völligen Idioten geleitet wurde. Daher wurde ihm sofort klar, dass die völlige Unübersichtlichkeit, die ein zielgerichtetes Einkaufen unmöglich machte, einen großen Vorteil für den Verkäufer darstellen musste.

Er griff sich einen herum stehenden Wagen. Mit etwas Glück schaffte er es auch, sich und den Wagen gleichzeitig durch die Einlassbarriere zu schleusen.

Als er jetzt den Schritt beschleunigte, merkte er, dass mit dem Einkaufswagen etwas nicht stimmte. Eines der Räder schlug wild hin und her, was es sehr schwierig und kraftaufwändig machte, das Gefährt geradeaus zu dirigieren.

Die hoch gewachsene, attraktive Mittdreißigerin, die ihm im Hauptgang begegnete war dieselbe, deren KA er vorhin beinahe zerquetscht hätte. Sie erkannte aber nicht den distinguierten Herrn am Steuer eines S 500 sondern bemerkte einen offensichtlich alkoholisierten Penner, der den Einkaufswagen, an den er sich klammerte, kaum geradeaus führen konnte; verdreckte Schuhe und wirres Haar passten ins Bild, nicht aber der perfekt sitzende, edle Kaschmirmantel, den er vielleicht von einem wohlhabenden Bruder übernommen hatte, der ihm wohl auch den Geldschein zugesteckt hatte, den er jetzt hier wahrscheinlich in Alkoholika umsetzte…

Der Vorstandsvorsitzende hatte aber gar keinen Blick für die leicht ironisch-neugierige Mine der Schönen, denn er hatte soeben hinten an der Rückwand des Marktes die Frische-Theken entdeckt.

Mit wild hin und her schlagendem Wagenrad  steuerte er dort die Fischtheke an, wo er zunächst in der dritten Reihe anstand.

Links war am Rand der Theke ein großes Schild „Vorbestellungen“ aufgehängt.

Dort sprachen laufend Kundinnen vor und erhielten sofort ihre vorbestellte Ware aus dem Kühlraum ausgehändigt.

MB orientierte sich in der Auslage der Fischtheke und entdeckte zu seiner Erleichterung eine große Platte hoch aufgetürmt mit Seezungenfilets. Vor seinem inneren Auge erschienen Hildchens delikate Seezungenröllchen – er konnte sie sogar riechen – und er lächelte in sich hinein: sein Schuljungenfehler würde sich in Luft auflösen!

Zwar erlitten die begehrten Filets in den nächsten 10 Minuten seines Wartens einen dramatischen Schwund, doch nun war er als nächster dran und es lag immer noch eine stattliche Anzahl auf der Platte.

In dem Augenblick erhob sich am Abholschalter ein lautes Gezeter. Dort stand eine Frau und beschimpfte den Verkäufer, weil ihre Vorbestellung nicht notiert worden sei. Der Verkäufer zuckte gelassen die Schultern, fragte nach, und 10 Sekunden später waren die letzten Seezungenfilets verschwunden.

Die Frau hinter ihm in der Schlange sagte: „Immer wieder derselbe alte Trick. Die stand eben noch hinter mir! Aber ich bringe das einfach nicht fertig. Da sieht man wieder die Nachteile einer guten Erziehung. Glücklicherweise gibt es aber auch viele Vorteile.“

MB war gerade nicht nach einer geistreichen Unterhaltung über die Vor- und Nachteile einer guten Kinderstube zu Mute. Er stand unter Schock, orderte schnell die anderen Kostbarkeiten auf dem Zettel und hatte sich dann sogleich vom Fischstand abgewendet. Hier machte sich nun seine nicht vorhandene Erfahrung in vielen Dingen des einfachen täglichen Lebens bemerkbar: er hatte noch nicht einmal nachgefragt. Hätte er sich nach drei Schritten noch einmal umgewendet, hätte er gesehen, dass die nächste hoch getürmte Platte mit Seezungenfilets nach vorne getragen wurde….

Diese banale Niederlage „in freier Wildbahn des Lebens“ hatte ihm einen Schweißausbruch beschert. Er zwang sich zur Ruhe: es würde ja wohl im Umkreis von 25 Kilometern noch ein anderes kompetentes Fischgeschäft geben.

Da er bisher nicht gewillt war, derartige Möglichkeiten des Internet auf dem Handy zu erlernen, blieb da nur noch Frau Geier als Anlaufstelle. Seine Sekretärin würde jetzt sicher auch die Gelegenheit zu Einkäufen mit Ihrem Mann nutzen, aber ihr Handy war für ihn immer erreichbar, falls er dringend eine Information brauchte.

So war es auch: Frau Geier meldete sich sofort und sagte auf sein Anliegen:

„Das würde ich im Ruhr-Zentrum holen.“

„Dort bin ich gerade und Seezunge ist ausverkauft!“

„Dann müssen Sie 20-30 km fahren. Die Markthalle Im Kaufhof in Essen hat das immer – und die Nordsee ist gleich um die Ecke.“

Unter normalen Umständen hätte er sich den Scherz hier sicher nicht entgehen lassen, ob 250 km Entfernung zur Nordsee für sie „um die Ecke“ sei.

Er wollte sich gerade bedanken, da hörte er am anderen Ende der Verbindung das gedämpfte Läuten eines Telefonapparates.

Er war wie vom Donner gerührt. Alles um ihn herum versank hinter der einen klaren Vision: Frau Geier stand im Sekretariat der Vorstandsetage! Nach über 20 Jahren mit zahllosen Anrufen von Reisen, war das Klingeln seines eigenen Apparates, das gedämpft durch die offene Tür zum Sekretariat drang, absolut unverkennbar für ihn. Jetzt fiel ihm auch die ungewöhnliche Befangenheit in Frau Geiers Stimme auf.

Wie in Trance klappte er das Mobiltelefon zu und starrte vor sich hin.

Es gab dort eine Sitzung, von der er nichts wusste – nein: aus der er bewusst ausgeladen worden war.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dass er die ganze Situation erfasste.

In den unmittelbar darauf folgenden Sekundenbruchteilen fiel der Schirm der „Unverwundbarkeit“ von ihm ab. er meinte sogar das Aufschlagen der Trümmer auf den Boden zu hören. In Wirklichkeit war dies zwar nur das laute Klappern zwischen den Drahtkörben der Einkaufswagen, als eine Familie versuchte sich in dem Gang an ihm vorbei zu drängen.

Er hörte auch nicht die Bitte der Frau, ob er seinen Wagen zur Seite schieben könne, weil in seinem Kopf gerade eine straff gespannte Saite mit lautem, hartem Geräusch zerriss.

Das ganze Energiezentrum in seinem Inneren, das einen ganzen Konzern über Jahre erfolgreich vorangetrieben hatte, war implodiert.

MB ließ den Einkaufswagen stehen und verließ den Markt, ohne irgend etwas um sich herum wahrzunehmen.

Er sah nur die Szenen vor sich, die gerade im Konferenzraum der Konzernzentrale in seiner Abwesenheit abliefen:

der Aufsichtsrat war dabei, jenen 43-jährigen Schnösel als seinen Nachfolger zu installieren, den Blaufelder ihm so warm als Nachfolger von Finanzvorstand Schneider und seinen eigenen Stellvertreter ans Herz gelegt hatte. MB hatte das Ansinnen abgelehnt. Mit diesem Mann gab es für ihn keine Basis der Zusammenarbeit – er kannte die Branche viel zu wenig, was der auch noch als „Vorteil“ verkaufte.

Jetzt waren sie dabei, eine Erklärung vorzubereiten, dass MB sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Vorstandsvorsitz zurückziehe und welche phantastischen Verdienste das Unternehmen dem Scheidenden zu verdanken hatte.

Er ging wie in Trance über den Parkplatz, dann die Treppenstufen hinab, die zur Straße führten, die dort am Steilabhang des Tales den Brückenkopf der Stahlbrücke bildete, die sich über das 120 Meter tiefe, grüne Tal spannte.

Jetzt sah er es wieder genau vor sich: nach seiner Ablehnung von Blaufelders Vorschlag hatte sich dessen Mine zu einer eisigen Maske verschlossen und er hatte das Thema danach nicht mehr angesprochen.

Im Bewusstsein seiner „Unverwundbarkeit“ hatte der Vorstandsvorsitzende Blaufelders Gesichtsausdruck keine Bedeutung beigemessen.

Ein schwerer Irrtum!

Er überquerte die Straße und ging am östlichen Brückengeländer entlang 150 Meter weit auf die Bücke.

Er stützte sich auf das Geländer, das er mit beiden Händen umklammerte und blickte in den über 100 Meter tiefen Abgrund.

Unten nahm er eine Straße und einzelne Häuser neben dem Fluss wie Spielzeug wahr. Am Straßenrand stand da unten ein Rettungswagen mit Blaulicht. Blaufelder hatte mal wieder an alles gedacht…

MB zog den Mantel völlig ruhig aus und legte ihn sorgsam zusammengefaltet auf das Brückengeländer. Er lächelte, als ihm diese sinnlose Geste bewusst wurde.

Dann ließ er sich über das Geländer in die Tiefe gleiten.

Während er fiel, wunderte er sich, dass sein Leben nicht wie ein Film an vor ihm vorbeihuschte – und als er unten aufschlug, erwachte er nicht schweißgebadet in seinem Bett.

Bereits in den Sonntagszeitungen meldet das Unternehmen den überraschenden und bedauerlichen Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden. Man vermutet eine schwere Erkrankung als Grund. Diese Vermutung werde durch den unmittelbar darauf folgenden Freitod des Mannes gestützt. Fremdverschulden an dem Brückensturz sei auszuschließen. Obwohl ein Rettungswagen nur zwei Minuten später zur Stelle gewesen sei, sei natürlich aufgrund der Höhe des Sturzes nur noch der Tod festzustellen gewesen.

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor – Herbert Börger

Kolloquium im Krankenbett

– oder: „Wie die Welt beinahe gerettet worden wäre…“

(Eine wahre Krankenbett-Geschichte.)

Stundenlang da-liegen und dösen unter dem Einfluss der ersten Antibiotikum-Dosis…

Es ist früh morgens.

Der Kopf, der sich mit gewisser Berechtigung einbildet Kommandozentrale zu sein, taucht aus der Tiefsee verworrener Träume und Halluzinationen langsam an die Oberfläche.

Aus dem diffusen Wabern milchiger Schwaden beginnen sich zwei Projekte mit zarten Konturen heraus zu bilden:

1. aufstehen und pinkeln gehen!

2. das dazu nutzen, um Papier und Stift zu holen, um sofort aufzuschreiben, wie die Welt gerettet werden kann!

Denn genau das hatte sich hinter den wabernden Schleiern im Döse-Zustand von Infekt und Medikamentenwirkung ganz selbständig herausgebildet: eine absolut geniale Lösung, wie die Wellt zu retten sein würde!

Früher hätte man das eine Erleuchtung oder einen messianischen Auftrag genannt – ein höheres Wesen hat sich meiner als Medium bedient!

„Jacques d’Arc – postmodern“.

Die Notwendigkeit, dieses schnellstens schriftlich festzuhalten, erlangte sofort noch höhere Dringlichkeit als der Harndrang!

Ich erneuerte meinen Befehl an die unteren Extremitäten:

Aufstehen – aber sofort!

Keine Reaktion… nur das rechte Knie lässt sich vernehmen: „Wir haben keine Lust, es ist gerade mal wirklich gemütlich hier.“

Und tatsächlich spüre ich, wie sich die Kniekehlen tiefer in die Matratze kuscheln.

Also wiegele ich ab: „Ihr habt recht, ich finde es hier augenblicklich auch ausgesprochen angenehm, aber erstens terrorisiert mich der Quälgeist Blase und zweitens haben wir einen messianischen Auftrag!“

Darauf das rechte Knie: „Typisch: vor zwei Stunden haben wir dich in die Küche geschleppt, damit du etwas trinken kannst, sonst müsstest du jetzt nicht pullern … und was den Auftrag betrifft, nimm’s mir nicht übel, aber bis du was zum Schreiben hast, hast du längst vergessen, wie du die Welt retten wolltest!“

Vor lauter Überraschung entfuhr mir ein taktisch unkluges „Stimmt!“ – tatsächlich wusste ich jetzt schon nicht mehr, wie meine geniale Rettungsidee für die Welt funktioniert hatte.

Daher erließ ich an die Kommandozentrale den Geheim-Befehl, sie solle organisieren, dass zukünftig Stift und Papier am Bett liegen. Schließlich kann die Rettung der Welt nicht davon abhängig sein, ob meine Knie mir gehorchen oder nicht.

Ich beschloss nun, auf den kooperativen Führungsstil umzuschwenken:

„O.k., Jungs, wenn ich pinkeln war, mache ich uns ein Brötchen und esse das. Von dem frischen Blutzucker haben alle was!“

Worauf sich der alte Griesgram von Darm vernehmen ließ: „Und ich muss den ganzen Scheiß dann wieder entsorgen…“

Jetzt reichte es: „Habt ihr vergessen, wer hier der Chef ist?!“ brüllte ich.

Unter dem leisen Murren von allen Seiten hörte ich ganz deutlich das linke Knie wispern: „Gaa-nich ignorieren, Leute!“

Es ist ein bisschen doof – selbst für ein Knie – und fällt auf jede Anstiftung zur Arbeitsverweigerung rein….

Ich beschloss, diesen Fall von Renitenz nun meinerseits zu ignorieren, gab aber doch der Kommandozentrale den Auftrag, sich den Fall von Befehlsverweigerung zu merken. Man würde das dann zu gegebener Zeit zu würdigen wissen, z.B. wenn ich einmal entscheiden müsste, ob das linke oder das rechte Bein abgenommen werden sollte ( …ich hörte mich schon sagen: „…das Linke, aber über dem Knie!“).

Nun schwangen sich problemlos beide Beine aus dem Bett, lediglich die Halswirbel krachten laut, als sich der Oberkörper folgend aufrichtete.

„Jetzt fangt ihr auch noch an!“ herrschte ich die sofort an, fest entschlossen, jeden Widerstand ohne lange Diskussionen im Keine zu ersticken.

„Man wird ja wohl noch seine Befindlichkeit Ausdruck verleihen dürfen!“ tönte es im typischen nörgelig-blasierten Halswirbel-Ton.

„Nix da! Ihr verleiht nichts! Außerdem habt ihr als Träger der Kommandozentrale weder Mitsprache- noch Streikrecht! Ihr seid quasi Beamte! Eure ständigen Befindlichkeiten sind mir schon lange ein Dorn im  Nacken!“

Jetzt war erst einmal Ruhe – als stummen, passiven Protest machte sich allerdings jedes Organ und jedes Glied so schwer, wie es irgend konnte. Mit der Wirkung, dass ich mich zur Erledigung des Nötigsten durch das Haus schleppte und auf kürzestem Wege wieder ins Bett – nicht ohne für Schreibzeug zu sorgen.

Leider behielt das rechte Knie recht:  die Lösung, wie die Welt zu retten sei, ist mir nicht mehr eingefallen – aber auf jeden Fall besteht Hoffnung: wenn ich wieder einmal einen messianischen Auftrag bekommen sollte, liegen nun immer Stift und Papier am Bett…… und hier steht nun leider nur die Geschichte, wie die Welt beinahe gerettet worden wäre … Pech gehabt!

Eines ist mir dabei allerdings doch noch in den Sinn gekommen:

Wenn nun manche von den anderen, die solche Aufträge bekommen hatten, ähnliche Probleme hatten…. und ich glaube, Jeanne d’Arc konnte vermutlich noch nicht einmal schreiben…

Stellen Sie sich einmal vor: all die Propheten, Jesus, Jeanne d’Arc – sie alle hatten wie ich vergessen, wie ihr Auftrag gelautet hatte!

Die  haben sich – durchdrungen von dem messianischen Auftrag – nicht so leicht aus der Verantwortung stehlen können wie ich das heute getan habe – das hat man früher schon wesentlich ernster genommen!

Also fiel ihnen dann schon irgendwas wieder ein, worin der Auftrag bestanden haben musste….

So fiel Jesus ein, dass er seinen Feinden vergeben könnte…!

Jeanne d’Arc ging hin und besiegte mit einem total desolaten französischen Heer die Engländer!

… und wieder ein anderer ging hin und wurde mit dem 1. FC Nürnberg deutscher Fußball-Meister.

Gedankt hat es Ihnen in allen Fällen niemand – allerdings spricht man noch heute über sie!

Ich war mir aber dann doch noch etwas zu jung dafür, um auf diese Weise in die Geschichte einzugehen….

Außerdem war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich die Welt überhaupt retten wollte!

Hätte das höhere Wesen es überhaupt nötig, einen im Fieberwahn delirierenden Siechen wie mich zu seinem Medium zu benutzen, um die Welt zu retten?

Warum hat es die Welt nicht einfach selber gerettet und mich in Ruhe meine Lungenentzündung auskurieren lasen?

Auf diese Fragen fand ich aber keine Antwort mehr, denn ich hatte mich schon wieder in größten Einverständnis mit allen meinen Gliedmaßen genüsslich in die Matratze gekuschelt und dämmerte auf Heilung hoffend dahin.

Postscriptum: Dies ist die erste kleine Geschichte, die plötzlich von irgendwo aus dem Off in mich hinein fuhr und in meine Schreibfeder drängte. Nichts von dem, das darin steht ist „ausgedacht“ – ohnehin ist es nur die reine Wahrheit und eigentlich schreibe ich nicht, sondern es schreibt mich … 

Copyright 2009 – Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Nichts bleibt …

Bleibt nichts?

ES IST DER AM SCHWERSTEN ZU ERTRAGENDE GEDANKE:

von allem, was mich jetzt – in der Vergangenheit – in der Zukunft ausmacht: BLEIBT NICHTS !

Was ich spreche, singe, rufe, schreie – zum Schluss vielleicht ächze und stöhne:

Es breitet sich nach allen Richtungen aus, wird an Kanten gebrochen und an Flächen reflektiert – verläuft sich in einer schwindenden Druckwelle, bis ein Schmetterlingsflügel es beiseite wischen kann… VANITAS… hat es ein Mikrofon aufgefangen, solange es darin eine messbare elektrische Schwingung erzeugte – ein Schallwandler an einem Speichergerät, Telefon, einer Alexa oder der Abhörleitung eines Geheimdienstes oder dem Archiv eines Funkhauses – auch umgewandelt in digitale Information: alles versinkt in der Masse aller Aufzeichnungen, Informationen – auch jenen, die rasend um den Planeten geschleudert werden (sinnlos vervielfältigt in multiplen Servern und Sicherungsmedien) – mein eigener Satz oder Ruf wird zerquetscht in der schieren Masse der rasend wachsenden Informations-Welle: Du glaubst Information sei schwerelos? – weit gefehlt: die gargantueske Informationsmasse pulverisiert Deinen Schrei bis schließlich ALLES vom überhitzten Planeten – überhitzt ALLEINE durch die exponentiell wachsende Informationsmenge, die auch Energie enthält – durch den Sonnenwind ins All geblasen wird – bis mein Schrei nach Äonen schließlich zusammen mit der anonymen Masse der anderen Schreie in irgendein schwarzes Loch gesaugt wird – und ein paar intelligente Wesen werden das beobachten und sagen: seht mal, wie schön… und wie klug WIR sind – aber es ist schwer zu ertragen, dass NICHTS davon bleibt… und auch diese Worte oder Gedanken werden dann weitere Äonen später …

Berlin, 15. Mai 2019 – ich-weiß-nicht-welche-Äone

Copyright Herbert Börger