Ernstchens Schuhe

Ernstchen ist vier Jahre alt, es ist wieder Frühling und er braucht für die nun kommende wärmere Jahreszeit neue Schuhe.

Nicht dass die alten Schuhe verschlissen+kaputt+abgelaufen wären … nein, sie stehen fein säuberlich im Kellerregal, ihre Nähte sind nicht durchgescheuert, die Sohle ist kaum verschlissen. Ganz deutlich sieht man noch das Elefanten-Logo und die 24 im Kreis. Ernstchens Füße sind seit dem Spätsommer so gewachsen, dass er nun in die Schuhe nicht mehr hineinpasst.

Ernstchens Eltern geben sich sehr viel Mühe bei der Aufzucht ihres kleinen Sohnes  (was absolut typisch für den sog. oberen Mittelstand sein soll). Vermutlich haben sie auch bewusst nur ein Kind haben wollen, um diesem alle Chancen im Leben bieten zu können. Ernstchen ahnt noch nicht, was dies für ihn bedeuten wird – jetzt ist er einfach noch ein freundlicher, im Wesen eher zurückhaltender, niedlicher, kleiner Kerl, der – wie gesagt – neue Schuhe braucht.

Für ein kleines Kind sucht meistens die Mutter die Kleider und Schuhe aus, zweckmäßig und von guter Qualität – und natürlich müssen die Sachen der Mutter gefallen – das heißt: Ernstchen muss der Mutter in den Sachen gefallen. Bisher.

Da nun Ernstchens Eltern sich sehr viel Gedanken um die Entwicklung ihres  Kindes machen, soll sich das nun ändern… Die Eltern haben – gemeinsam – einen Entschluss gefasst und dieser lautet:

Ab jetzt sucht sich Ernstchen seine Schuhe und Kleider selbst aus!

So fanden sich also Ernstchen nebst Eltern aus bedeutungsschwangerem Anlass in der best-sortierten Kinderschuhabteilung der Innenstadt wieder, nicht etwa in so einem Billigschuh-Tempel auf der grünen Wiese, denn Ernstchen brauchte nun natürlich die beste Beratung, die zu kriegen war!

Ernstchens Mutter verpflichtete die Verkäuferin, die ihr am erfahrensten erschien, zu dem bevorstehenden Fron-Dienst. Routiniert blickte diese unter die Winterstiefelchen, die Ernstchen inzwischen ausgezogen hatte und stellte den erstgeborenen Sproß, der noch nicht ahnte, welche Erwartungen auf ihm lasteten, auf das Fußmessgerät. Sie verkündete:

„Größe 26, schmaler Fuß – gut dass Sie so früh im Jahr gekommen sind, im April sind die alle ausverkauft!°

Ein weises, selbstzufriedenes Lächeln umspielte den Mund von Ernstchens Mutter, die nun der Verkäuferin das Projekt erläuterte.

Deren Augenbrauen hoben sich zwar fast demonstrativ, aber professionell sagte sie „Na, dann wollen wir mal…“ mit nur sehr leicht ironischem Unterton.

Erster Akt:

Die Mutter nimmt mit Ernstchen an der Hand die Parade der  Schuhe in den Regalen ab, die nach Information der Verkäuferin für Ernstchens Schuhgröße in Frage kommen. Ernstchen ist aufgefordert, auf die Schuhe zu zeigen, die ihm gefallen. Am Ende des Regals hat Ernstchen auf  k e i n e n  einzigen Schuh gezeigt…

Zweiter Akt:

Die Mutter erläutert Ernstchen freundlich, dass er sich jetzt ja noch nicht entscheiden muss, sondern dass er alle ausgewählten Schuhe noch anprobieren wird!

Sie nehmen erneut die Parade der Schuhe im Regal ab, wobei die Mutter dem Sohn bei jedem Schuh eindringlich dessen Vorteile preist und fragt, ob er den einfach unverbindlich anprobieren möchte.

Mutter und Sohn kommen mit  a l l e n  Schuhen, die im Regal gestanden hatten, zum Anprobestühlchen zurück. An die Verkäuferin ergeht die Weisung, diese alle in Ernstchens Größe zu holen!

Dritter Akt:

Nach einer Viertelstunde hat es die Verkäuferin geschafft, die Hälfte der Schuhe als Kandidaten auszuschließen, da wider erwarten – trotz des gepriesenen frühen Erscheinens der Eltern – die Größe nicht mehr da sei bzw. dieser Hersteller den schmalen Fuß nicht als Marktnische betrachte….

Die Mutter schlägt ein erstes Paar zur Anprobe vor und bittet Ernstchen, dieses anzuziehen – und zwar selbst und ohne Hilfe, damit man gleich sieht, wie er mit dem Verschluss zurecht kommt!

Als Ernstchen die Schuhe schließlich an hat, hat die Verkäuferin in der Zwischenzeit einer anderen Kundin je ein Paar Schuhe für Tochter und Sohn verkauft, verpackt und abkassiert.

Ernstchen geht – klapp-klapp – mit den ungewohnt steifen, ungewohnt großen Schuhen herum und stolpert über jede Ritze im Parkett. Er blickt ratlos auf die Schuhe an seinen Füßen und lässt sich zu keiner verbindlichen Aussage nötigen.

„Die lassen wir mal in der engeren Wahl“ – mit dieser verräterischen Äußerung stellt die Mutter das Paar zur Seite…

Vierter Akt:

Kartons und Schuhe stapeln sich um Ernstchen herum. Inzwischen ist man dazu übergegangen, dass die Verkäuferin nach stummem, ratlosem Kopfschütteln oder Schulterzucken des Kindes diesem die Schuhe wieder auszieht und die Mutter sofort ein neues Paar Schuhe auf Ernstchens Füßen befestigt, worauf dieser wieder herumstolpern darf…

Inzwischen hat Ernstchen herausgefunden, dass er die danach folgende Beratungsphase über jedes Paar Schuhe wesentlich verkürzen kann, wenn er kooperiert und in bestimmtem Ton verkündet, dass dieser vorne drücke, jener hinten reibe oder schlüpfe, der nächste überhaupt keinen Halt biete!

Beim letzten Paar erscheint jene Panik auf dem Gesicht der Mutter, die alle Eltern befällt, wenn ihr hoch gepriesener Nachwuchs anscheinend nicht die Erwartungen erfüllt…

Auch die Verkäuferin sieht nun nicht mehr so wie aus dem Ei gepellt aus…

Und der Vater?

Als typischer Steinzeit-Jäger streift er – nach dem beiläufig gemurmelten Hinweis, er wolle sich umsehen, ob nicht doch noch etwas übersehen worden sei – durch den Laden. Nahe genug, um von der Szene nicht zu verpassen, aber so weit entfernt, dass er nicht unmittelbar mit dem Geschehen in Zusammenhang gebracht werden kann – typisch Mann!

Fünfter Akt:

Jetzt wäre es eigentlich Zeit für Mutters

„Karl-Heinz, jetzt sag Du doch mal!“

gewesen… da begegnet Ernstchens um Hilfe flehender Blick dem seines Jäger-Erzeugers.

Der Vater macht eine auffordernde Kopfbewegung, worauf der Spross sich humpelnd zu ihm in Bewegung setzt, links eine blau-rosa geringelte Socke rechts ein klobig wirkender halbhoher Schuh mit blau glänzender Kappe, mattgrünem Schaft und einer riesigen roten Schnalle quer darüber.

Vater geht in die Hocke und fragt: „Ist denn gar keiner dabei, der dir gefällt?“

Schulterzucken bei Ernstchen.

„Kannst du denn sagen, welche Schuhe dir gefallen würden?“

„Ja, aber die haben sie hier ja nicht…!“

„Und wie sehen die aus?“

„So, wie die, die Opa immer im Garten an hat.“

Copyright 2006, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger