Es fährt noch ein Zug von der Gare de l’Est

oder: Train-A-Grand-Vitesse-Déprimé

(Motto: so ein Zug ist ja schließlich auch nur ein Mensch!)

Eigentlich fährt natürlich ständig ein Zug von der Gare de l’Est, besonders nach Deutschland – und mittlerweile: was für Züge! SuperHochgeschwindigkeitszüge (im Nachbarland Train a Grand Vitesse = TGV genannt).

Aber auch deutsche! – die 400 km/h und mehr erreichen können und dabei sanft und leise dahin schweben – wenn sie dürfen!

Leider ist die Fahrt von Paris nach Mannheim für den deutschstämmigen Superzug eine geradezu erniedrigende Prozedur!

Kaum ist der Rand der Ile de France erklommen, geht der Zug schnurstracks auf Höchstgeschwindigkeit und gleitet mit grandioser Fahrtruhe seinem Heimatland entgegen.

Dafür haben unsere westlichen Nachbarn extra eine gerade Linie mit dem Lineal von Paris bis ins Lothringen nördlich von Metz gezogen und dann auf der Linie entlang ein neues Gleis ohne Haltestelle gebaut. Das scheint dem weißen Pfeil auf Schienen mächtig zu behagen.

Als erfahrener und technikverliebter Reisender blicke ich mich jetzt erwartungsfroh um, da ich gerne wüsste wie schnell der jetzt unterwegs ist.

Da sind zwar hochmoderne elektronische Anzeigetafeln mit roter Schrift an beiden Wagenenden, aber die geben in winziger Schrift, die man vom Sitzplatz ohnehin nicht lesen kann, ständig nur bekloppte Reservierungs-Hinweise, die der, der hier im Zug sitzt, jetzt gerade nicht braucht, denn sonst säße er ja nicht hier…!

Kaum aber ist das grandiose Vehikel in Lothringen – wahrscheinlich eine Strafe für die teilweise deutsche Vorgeschichte – auf einen Schleichgang abgebremst worden, erscheint plötzlich doch noch in riesigen Lettern weithin sichtbar auf dieser Tafel: 125 km/h !!! Erstaunlich, ich hätte jetzt 60 km/h geschätzt…

Noch einmal beschleunigt das weiße Phantom mächtig – prompt erscheint in der Anzeige wieder Kleingedrucktes. Erst als wir gemächlich nach Saarbrücken hinein bummeln, freut sich die Großanzeige wieder über sagenhafte 100 km/h.

Hier keimte bei mir der Verdacht auf, es könnte durchaus dies quasi eine Demonstration von systemkritischen Programmierern mit Zugang zum Anzeige-System darstellen, die jedem, der bereit ist das wahrzunehmen entgegen schreit: sieh nur – in diesem Bummeltempo ist Euer Land in die Zukunft unterwegs, und in nicht ferner Zeit wird die Zukunft über euch hinwegbrausen, so wie dieses weiße Phantom über die triste Landschaft der Champagne!

Herr Mehdorn würde dies wahrscheinlich nicht bemerken, selbst wenn er im Zug säße, denn er weiß das ja schon und er würde sich eben darüber freuen, wie elegant sein Geisterzug durch Frankreich huschen kann.

Nun finde ich eine derartige zukunftspolitische Demonstration gar nicht schlecht, hätte da aber noch einen eigenen Vorschlag parat:

man nutze die Anzeige, die ja den größten Teil der Fahrtzeit eher ungenutzt ist, um auf ihr kurze Gedichte und Aphorismen  anzuschreiben – gerne auch für den Reisezweck passend umgedichtet:

„Ich setzte

meinen Fuß

in den Zug –

– und er trug!“

(Sorry, Hilde!)

oder

„Ein Zug ist ein Zug ist ein Zug“

Aber vielleicht ist das zu teuer, wegen der fälligen Tantiemen an die Dichter und ihre Erben…. Und der garantiert tantiemefreie Ovid ist eben lateinisch.. und nicht ganz jugendfrei.

(Aber falls doch Interesse besteht: ich habe als Gymnasiast eine fabelhafte Ovid-Übersetzung verfasst – in Hexametern! – die hätte ich günstig abzugeben.)

Es folgt, was man schon ahnte: nach ausgiebigem Halt in Saarbrücken – wahrscheinlich darf nur ein Lockführer der passenden Nation jeweils den Wachhalte-Knopf im Leitstand drücken – schaukelt uns der Schienen-Potenzprotz für den Rest der Reise durch idyllische, heimische Täler und Auen.

Das gezügelt dahin gleitende Schienen-Ungetüm träumt jetzt wahrscheinlich schon wieder von der Rückfahrt, wenn es wieder wie ein Pfeil über die karge Champagne- und Marne-Landschaft fliegen darf.

Für mich hielt die elektronische Anzeigetafel allerdings noch eine kleine Gemeinheit parat: als ich kurz vor Saarbrücken aufblickte, stellte die Anzeige in großen Lettern gerade die Frage:

„Haben Sie auch nichts vergessen?“.

Kurz darauf erschien – für das Volk der französischen Analphabeten eingebettet zwischen Piktogrammen eines Koffers und eines Regenschirmes: „Oublié quelle-que chose?“

Das war natürlich an die gerichtet, die – überrascht über die kurze Fahrt und halb besoffen jetzt gerade noch rechtzeitig aus dem Bord-Bistro torkelten und in Saarbrücken ohne ihr Gepäck aussteigen wollten.

Anstatt dessen durchfuhr es mich siedend heiß: am letzten Tag in Paris hatte ich mein Gepäck im Hotel deponiert, um es auf der Metro-Fahrt zum Bahnhof bei einer kurzen Unterbrechung in St.Germain-des-Prés dort abzuholen. Und das hatte ich vergessen!

Die ganze Zeit des Aufenthaltes im Bahnhof von Saarbrücken redete ich auf den Schaffner ein, er möge den Lokführer zur Umkehr bewegen, um mein Gepäck noch aus dem Hotel abzuholen. Ich ließ erst nach der Weiterfahrt von ihm ab, da mir auch klar war, dass der Zug nicht auf offener Strecke umdrehen konnte.

Im Augenwinkel sah ich noch, dass er danach sofort zum Telefonhörer griff, und ich befürchtete schon, dass in Kaiserslautern einige Pfleger in weißen Anzügen am Bahnsteig stehen würden. Zeit genug wäre ja gewesen, um sie zu mobilisieren… Aber ich hörte dann, dass er doch nur seine Frau anrief, sie möge ihm schon mal einen Melissentee kochen, heute seien wieder lauter Bekloppte im Zug unterwegs!

Kurz vor Mannheim wache ich auf, als wir durch Ludwigshafen ruckelten.

(Bitte: das heißt jetzt „Metropolregion Rhein-Neckar“ – sic! Ob jemand den mittelhochdeutschen Stabreim gemerkt hat? Vielleicht eine beabsichtigte Erinnerung an die Nibelungen?).

Der Blick nach oben offenbarte mir erleichternd die Anwesenheit meines Koffers – verursacht die extrem hohe Reisegeschwindigkeit vielleicht doch schlechte Träume?

Als ich meinen zentnerschweren Trolley zum Ausgang zerre, angelsächselt die Anzeigetafel ironisch auf mich ein:

„Your Luggage?“

(O Sanctus Globalinius!)

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger