Brief an Herrn Nuhr
Betr.: Alice Salomon Hochschule – Avenidas
Lieber Herr Nuhr!
Ich komme zurück auf die letzte Sendung von „Nuhr im Ersten“. Das ist doch schön, oder? Jetzt wissen Sie definitiv, dass es wenigstens einer gesehen hat – ja, und meine Frau hat es auch gesehen… also schon zwei!
Wir sind „old-school“-Kabarett-Konsumenten… wir haben die „Insulaner“ noch im Radio gehört und sind zum Ruhestand extra nach Berlin gezogen, um uns mal „zufällig mitten aufm Kurfürsten Damm zu treffen“. Und meine Frau hadert heute noch damit, dass sie bei Dieter Hildebrandt (MLuSG) im Aegi-Theater in Hannover eingeschlafen ist, weil wir sie vorher den ganzen Tag über die Luftfahrtschau geschleift hatten…. das muss 1969 gewesen sein. Aber ich schweife ab!
Was mich bekümmert ist, dass auch mit der schier unfassbaren Masse der derzeitigen Kabarett- & Comedy-Welle die Welt nicht besser wird, aber sogar manche Staaten extra Kabarett-kompatible Präsidenten einstellen, damit das Land auch ja 365 Tage im Jahr „on air“ ist! (Ich geb zu, dass mir da die USA vorschwebten, aber Türkei und Polen holen kräftig auf…)
Was wollte ich noch? Ach ja ihre letzte Sendung. Und ja: der Anlass ist ERNST:
Ich sah sofort, was jetzt kommen würde: das Bild von der ASH-Fassade taucht auf – mit dem Gedicht Avenidas.
Alle – aber auch alle haben es schon gebracht: nachdem alle regionalen und überregionalen Medien es seit Monaten durch hatten (überregional durch die FAZ am 29.8.2017 losgetreten), kulturelle Institutionen mit hoher Autorität auf die ASH eingedroschen haben (PEN, Grütters) rollte die Nummer nun durch alle kabarettistischen Sendeplätze (Welke – Ehring …) und jetzt ganz zum Schluß auch noch NUHR! Und alle haben ganz offensichtlich NICHT wirklich selbst recherchiert – nur nachgeplappert was alle-alle als Urteil gefällt haben: „doofe Studentinnen maßen sich das Urteil des Sexismus gegen hohe Kunst und unverdächtige Lyrik an“.
Und jetzt Dieter Nuhr! Der hoch-geschätzte originelle – der die Dinge oft aus einem neuen Blickwinkel betrachtet. Wird er originell sein? Hat ER recherchiert?
Die Antwort: NEIN!
Ich hörte es schon daran, wie sie den Namen „Alice Salomon Hochschule“ zelebriert haben – hier wird ein scharfrichterliches Urteil a la Nuhr folgen. Und sie machten kurzen Prozess. Wissen Sie, wie viele „Nachdichtungen“ der „Avenidas“ es aus diesem Anlass schon gegeben hat? – und ihre war echt nicht die witzigste…. Und Sie setzen noch eins drauf und bringen den Zusammenhang mit #MeeToo ! Das Begehren des ASH-ASTA ist aber vom Frühjahr 2016! Kurz: ich war sehr-sehr enttäuscht.
Da sitzt nun Herr Nuhr, der Scharfsinnige, der Anti-Mainstream-Nuhr auf einem Ross mit Bild-Zeitung, PEN-Vorsitzendem (Zensur!), Monika Grütters (Freiheit-der-Kunst!) und hinter all den Nachbetern ganz hinten noch er – als vorläufig letzter… Nuhr als Epigone von Bildzeitung und Grütters… ich fasse es nicht.
Ja, die Bild-Zeitung sitzt ganz vorne auf dem Ross mit einer Meisterleistung der Recherchen-Kunst, nachdem die FAZ schon wunderbar vorgelegt hatte: durch ein Interview des Rektors der Hochschule (was so ist wie: Hans hat eine Fensterscheibe eingeschmissen – die nicht betroffene Nachbarin geht zu Hans‘ Eltern und fragt die, warum Hans das wohl getan hat? Der ASTA der ASH wurde nicht gefragt.) Der Rektor war derjenige, der (meines Wissens) ohne demokratischen Prozess das Gedicht an die Fassade gebracht hat.
Die Informationen, die ein objektiveres Bild der Sache ermöglichen, sind alle seit Oktober 2017 leicht zugänglich. Kurz nachdem am 28.08.17 der Shit-Storm gegen die ASH losbrach, hatte die ASH eine umfangreiche und detaillierte Dokumentation aller Publikationen im Zusammenhang mit dem Thema angelegt – und es erschien eine ausführliche und kluge Stellungnahme der Prorektorin der ASH, in der klargestellt wird, dass der ASTA dem Gedicht keinen Sexismus vorwirft.
Wissen Sie, was meine eigene Reaktion am 30.8.17 war, als ich von der Causa aus der Berliner Zeitung erfuhr? Ich dacht: „Geht’s noch? Das ist doch bestimmt eine <Trigger Warning>-Forderung unserer verzärtelten Hochschuljugend.“ Das Gedicht „Avenidas“ fand und finde ich sehr schön als solches. Und ich habe in die Tiefe gehend recherchiert, weil Trigger Warnigs ein Thema ist, das mich sehr berührt – und dies nun vor meiner Haustür! Dann habe ich das Thema eine Weile sacken lassen.
Mein Recherchen-Ergebnis: keine Trigger-Warnings, keine überzogene Political Correctness, keine Zensur, keine bedrohte Freiheit der Kunst… Es geht hier um einen KONTEXT.
Dazu habe ich in meinem Blog einen ersten Text veröffentlicht
Nachdem das Ergebnis des internen demokratischen Prozesses in der ASH vorlag einen zweiten Text:
Hiermit folgt nun meine dritte Stellungnahme in meinem Blog – dies ist ein offener Brief an Sie.
Falls Sie keine Lust haben, die Texte in meinem Blog zu lesen – hier eine Kurzfassung:
Um die Studierenden in der ASH zu verstehen, muss man sich in ihre Lage in die Hochschule hinein versetzen! Dort lernen sie um später überwiegend als Lehrer und Erzieher in der Gesellschaft eine wichtig Funktion auszuüben – und das kann ein tougher Job sein…. Die Studentinnen sehen sich nicht als die „Blumen“ und die auf dem Boulevard flanierenden Frauen, die dort gehen, um bewundert zu werden (was an sich in Ordnung gehen würde). Sie werden aus der ASH raus gehen und hoffen, dass sie da draussen respektiert werden für das, was sie individuell TUN, nicht als das was sie anonym SIND. Ihre Meinung ist: Das Gedicht aus dem Jahr 1951 eines heute 94-jährigen Dichters passt im Kontext nicht an dieses Haus.
Nur durch den Perspektiv-Wechsel kann man dies erkennen. Das habe ich versucht und frage mich, warum NIEMAND sonst sich diese Mühe gemacht hat (Frau Grütters zum Beispiel hat ihren Amtssitz fast vor den Toren der Hochschule).
Nach all dem war ich zu der Meinung gelangt, dass das Begehren des ASH-ASTA legitim ist und ja auch demokratisch bestätigt wurde.
Sie haben hier mit einfachsten Mitteln Ihren Vorteil gesucht und geholfen, dem Ruf der ASH zu schaden.
Ich würde mich freuen, wenn ich Sie davon überzeugen konnte, dass Sie hier falsch lagen….
Ich finde wohlmeinende Bürger sollten sich überlegen, wie der Schaden repariert werden kann.
Herbert Börger
© Der Brandenburger Tor, Berlin, 16. Februar 2018