Waren Sie schon mal bei einem Poetry Slam? (Meine Schätzung: 65% sagen jetzt ja…)
Für mich war es gestern DAS ERSTE MAL beim 7. Poetry Slam Adlershof, Berlin, veranstaltet von Meinhardt Medien im Erwin-Schrödinger-Zentrum. Slam Master: Felix Römer. Es war ein kleiner Saal zu 2/3 gefüllt mit gut 100 Zuhörern.
Da mir also der Vergleichsmaßstab fehlt, liegt auf der Hand, dass dies keine „Kritik“ der Veranstaltung oder der Autoren und Lyrik-Inhalte sein kann – es ist ein Erlebnisbericht!
Fünf Poetry Slammer waren vorher eingeladen – die Regeln kannten die gut, denn sie haben es offensichtlich nicht zum ersten Mal gemacht: obwohl die Vortragszeiten nicht gestoppt wurden, kam es nicht zu Längen. Es gab kein Programm zur Veranstaltung, und ich kannte keinen der Slammer. Daher ließ ich mir die Namen der Teilnehmer hinterher von Herrn Römer geben. Erst später habe ich recherchiert. So bin ich völlig unbedarft und unbeeinflußt dort hin gegangen – Das war gut so!
Ich dachte erst: nur fünf Slammer? Bisschen mickrig das Programm, mit 5 Minuten je Vortrag … Ich war halt Newbie! Hinterher war ich froh darüber – Mehr Teilnehmer hätten mein Gehirn kaum verkraftet.
Das Publikum war auch nicht durchgehend erfahren in dem Genre – nach „Blitzumfrage“ durch den Slam Master waren auch ca. 30% erstmals beim Poetry Slam dabei – erstaunlich. Noch erstaunlicher war die Alterspyramide im Saal: die lag sehr nahe bei der statistischen Gesamtverteilung der BRD (ohne Kinder – aber die muss man sich ja zukünftig ohnehin immer mehr wegdenken…) – das hätte ich viel jünger erwartet. Aber: das Genre ist ja auch schon 25 Jahre unterwegs… Dieses Publikum hatte die heilige Aufgabe, durch Klatschen, Johlen, Trampeln über die Qualität der Dichtung abzustimmen… Der Slam Master räumte seinerseits gleich ein, dass das ein völlig sinnloser Vorgang sei. Buh war auch erlaubt – hat aber keiner gemacht! ( Aus Wikipedia weiß ich, dass es auch Slams gibt, bei denen exakt Punkte vergeben werden – oder Wäscheklammern, die bei dem/der SlammerIn angeklipst werden… das muß sehr schön aussehen!)
Der Wettbewerbsmodus ging so: 1. Durchlauf: SiegerIn aus 5 ermitteln – 2. Durchlauf: SiegerIn aus restlichen 4 ermitteln (Reihenfolge des Vortrags umgekehrt!) – 3. Durchlauf: Finale zwischen den beiden SigerInnen. Natürlich lauter verschiedene Texte!
Kurzer Überblick über die Teilnehmer:
Aron Boks war der erste, der auf die Bühne kam – und wurde schließlich der Sieger des Abends. Sehr jung, Student in Berlin. Er stammt aus dem Harz – wie ich, aber es liegt ein halbes Jahrhundert und die ehemalig Zonengrenze zwischen unseren Geburten/Geburtsorten. Text, Sprache und Performance (Bühnenpräsenz!) bilden bei ihm eine homogene Einheit – und die ist nicht die Darbietung eines Sonnyboys sondern eher dunkel eingefärbt! Ich hatte den Eindruck, dass ihm das Talent regelrecht aus allen Poren dringt und kleine Pfützen auf der Bühne hinterlässt… Seine Texte waren die einzigen, die ich hinterher als Ausdruck ergattern konnte. Sein gedruckter Text ist extrem sperrig zu lesen – aber als er die Performance vortrug – völlig frei sprechend, traf sie mich direkt ins Herz. Sehr ungewöhnlich… Was er da gestern auf der Bühne zeigte hatte nichts mit dem Video auf Youtube, „Hoffentlich Berlin“, zu tun – außer dem gleichen Text (https://youtu.be/5Wqa5DUViqk). Sie würden Ihn nach dem Video nicht wiedererkennen: er muss in der Zwischenzeit sehr hart an der Performance gearbeitet haben. Und eine tolle Gedächtnisleistung erbringt er obendrein!
VUX (eine Frau!) stand gestern schließlich im Finale gegen Aron Boks – auch Studentin, auch jung, Berlinerin. Messerscharfe Texte, war in den Acts mit frauen- und ich-bezogenen Texten unterweg und sprachlich und emotional sehr stark. Erkennbar war sie entprechend auch der Liebling der Frauen im Saal. Sie trägt teilweise frei vor, unterstützt von Blicken in Ihren Schrifttext. Das mach die Performance allerdings weniger frei – und hat sie vielleicht auch den „Endsieg“ gekostet.
Arno Wilhelm(-Weidner) schreibt sehr originelle, witzige Texte. Seine Texte entsprachen etwa meinem Erwartung-Klischee von Poetry-Slam – es reimte sich sogar teilweise… Allerdings liest er durchgehend alles ab. Das führt dazu, dass sein Gesicht überhaupt nicht mehr zu sehen ist, wenn der Text sich unten auf dem A4-Blatt befindet. Durch die fehlende Performance kann er wohl schwer auf der Bühne gegen die „high-performance“-Slammer gewinnen. Bei seinen Texten ist es für mich genau umgekehrt zu Aron Boks: seine Texte gewinnen, wenn man sie selbst liest, gegenüber Wilhelms eigenem Vortrag erheblich! Er erklärt, dass er Sätze liebt, die mit drei Punkten beginnen – ich liebe Sätze, die mit drei Punkten enden …
Fee (die andere Frau) stellt auf der Bühne das „strahlende Leben“ dar – sie schreibt sehr originelle-witzige Texte, verbunden mit einer sehr starken gesellschaftlich Botschaft und mit einer guten Performance (und ein bisschen Gedächtnisstütze). Wenn sie jetz noch immer völlig frei sprechen würde… Sie studiert Operngesang – und baute auch einen kurzen gesanglichen „Beweis“ in ihre Performance ein! Ihr Text „Wenn schlau das neue schön wäre…“ war aus meiner Sicht vielleicht der beste/originellste Eizel-Beitrag des Abends! (Kann man auch auf Youtube sehen/hören (https://youtu.be/n-GjxhHYBqU) – ihr Vortrag war aber gestern abend eine ganze Klasse besser als im Video!)
Wolf Hogekamp ist – wie mir Felix Römer zu-raunte – DAS Poetry-Slam-Urgestein Deutschlands. Wikipedia bestätigt das! und petzt, dass er Jahrgang 1961 ist. – Er veranstaltete die ersten Slams in Berlin ab 1994 als Vorreiter im deutschen Sprachraum. Es ist also Ehrfurcht angesagt! Und berechtigt. Er liest seine Texte ab – aber die haben es in sich… Sein zweiter Beitrag war von kaum zu überbietender Skurrilität! Und dabei hatte ich ein déjà-vu: er bewegte sich exakt im Genre, das ich bisher nur von Torsten Sträter kannte (der 5 Jahre jüngere Sträter stammt hörbar aus dem Pott – Hogekamp vom Niederrein… darin liegt der ganze Unterschied!). Ist Hogekamp das Original? Danke Meister! Dass er den Slam anscheinend nicht gewinnen wollte (?) sondern die großartigen-jungen vor gelassen hat (?), ist ihm eventuell anzurechnen…
Ich finde es gerecht, die Lyrik-Helden zuerst zu loben…. Ungerecht wäre es aber, den Slam Master ganz auszulassen. Die extrem unterschiedlichen fragilen Gebilde von Lyrik, Texten und Performance müssen unbedingt in einem Rahmen zusammengehalten werden.
Felix Römer ist nach allerhöchsten Maßstäben ein sehr-sehr guter Moderator – einer, dem das im Blut liegt. Er hatte sich gestern Abend (oder macht er das immer so?) für den Weg der „Publikumsbeschimpfung mit Fingerspitzengefühl“ bzw. „Zuckerbrot und Peitsche“ entschieden. Die auftretenden Autoren-Performer sind bei ihm die Helden – das Publikum quasi der träge, etwas beschränkte „Koloss“, aber einer der gedemütigt werden will und manipulierbar ist und dafür mildernde Umstände bekommt.
Wir – Zuhörer und Jury in einer Person – durften in solche Klatsch-Orgien ausbrechen, dass mir heute noch die Hände weh tun (das fördert aber die Durchblutung! … und für nur 10 EURO eher eine billige Therapie!) – danke, Herr Römer.
Zum Schluß bleibt noch, den mutige Gast (eigentlich Zuhörer) zu erwähnen, der sich für eine musikalische Umrahmung des Programms mit Saxofon bereit erklärt hatte, obwohl er eigentlich noch übt… Chapeau!
Heute kein Aphorismus, sondern ein Zitat über den Slam-Zuhörer (aus dem Wikipedia-Artikel):
„Der durchschnittliche Slam-Zuhörer bewertet den künstlerischen Wert eines Gedichts nicht aufgrund literarischer Qualität, sondern im Vergleich zur allgemeinen Populärkultur, die ihn umgibt. Nur mit dem Wissen ausgestattet, welche Dinge sie persönlich in anderen Bereichen ihres Lebens unterhaltsam finden, wenden die Zuhörer die gleichen Standards an, um die Bühnendichter zu bewerten.“
– Joe Pettus: How to win a poetry slam
Herbert Börger
© Der Brandenburger Tor, Berlin, 01. Dezember 2017