Das fängt ja gut an – 307 – Ein Feind in meinem Körper

Ein unheimlicher Gast …

… wohnte in meinem Körper.

Es war ein Tumor – ein Non-Hodgkin-Lymphom. Es wurde vor 27 Monaten entdeckt … bzw. diagnostiziert.

Erst jetzt kann ich darüber sprechen – und möchte erzählen, wie sich das anfühlte und wie ich es erlebt habe.

Von Kindheit an konnte ich mich auf meinen Körper verlassen – auch wenn ich ihn geschunden und mißachtet hatte. Aber jetzt beherbergte er erwas… Fremdes? Etwas, das nicht auf den Takt meiner Gene hörte – es fühlte sich an wie – Verrat! Das klingt verrückt, aber dieses Gefühl kam auf, als ich die Diagnose kannte – vorher hatte ich nichts davon gespürt.

Dieses „maligne Non-Hodgkin-Lymphom“: es sind nur ein paar Wörter. Sie beschreiben aus Sicht des Mediziners einen Zellhaufen, der außer Kontrolle meines Körpers war; etwas Fremdes, das sich eingeschlichen hatte… oder auch schon da war …

Erster Akt: Ich gehe zur Zahnärztin, da ich unten links im Kiefer eine Reizung spüre – ich vermute eine entzündete Zahn-Wurzel. Ich spüre da auch von außen eine leichte Schwellung. Das Röntgenbild ist ohne den vermuteten Befund – aber die Ärztin sagt, dass da ein „Schatten“ sei im Unterkiefer, möglicherweise eine Zyste – und überweist mich an einen Kieferchirurgen in Erlangen – und dieser dann an die Radiologie in der Universitätsklinik Erlangen. Eine längere Diagnose-Strecke beginnt: CT – MRT – schließlich Gewebe-Entnahme in diagnostischer OP. Währenddessen arbeite ich ganz normal weiter – bis auf vier stationäre Klinik-Tage in der Chirurgie. Während dieser Zeit wurde mir im Wesentlichen das Gefühl vermittelt, dass es wahrscheinlich „etwas Gutartiges“ sei, das da meinen Kiefer-Knochen zerstört (wie bitte?). Wahrscheinlich habe ich mir dieses Gefühl auch selbst vermittelt, da ich mir etwas anderes nicht vorstellen konnte… Es dauert lange, weil diese histologischen Untersuchungen immer durch zwei getrennte Labore abgesichert werden.

Zweiter Akt: Er beginnt auf der Rückreise von einer Dienstreise – ich stehe auf einem zugigen Bahnsteig im Kölner Hauptbahnhof als mich der Anruf des Arztes aus Erlangen erreicht. Laute Zuggeräusche und Lautsprecherdurchsagen erschweren die Verständigung: ich verstehe ihn zunächst falsch… höre „nicht“ bösartig. Glücklicherweise  frage ich nach – und erhalte das Urteil: bösartiges Lymphom. Termin für weitere Untersuchungen… Merkwürdigerweise bin ich nicht erschüttert. Ich stelle fest, dass ich diese Möglichkeit doch bereits vorher angenommen hatte. Aber ich nehme plötzlich die vielen Menschen um mich herum „schärfer“ wahr – jeder Schritt fühlt sich jetzt anders an…

Dritter Akt: Der Täter wird gejagt… die Universitätsklinik wird zu einem zweiten Zuhause – während ich normal weiter arbeite. Knochenmarkpunktion, Ganzkörper-CT … Es gibt einen ganzen Zoo von verschiedensten Lymphomen – die Analyse ist kompliziert. Aber schließlich wird das Urteil präzisiert: sehr langsam wachsender Non-Hodgkin-Tumor – begrenzt auf die eine Lymphdrüse mit großflächiger Infiltration in Unter- und Oberkiefer links – große Gefahr – aber keine große Eile angesagt.

Vierter Akt: Ich verstehe langsam, dass sich da ein Fremdling eingenistet hat, der in aller Seelenruhe begonnen hat von einem Punkt im Organismus aus meinen Körper zu zerstören und sich sehr viel Zeit dazu läßt, weil er sich seiner Sache sicher sein kann. Dieser Fremdling hat dabei so gut wie keinen Stoffwechsel, das ist seine Tarnung – und sein Schutz, denn dadurch ist eine Chemotherapie unmöglich. Er würde das „Gift“ nicht fressen, das man ihm vorsetzt. Ein kleiner Vorteil für mich: die Experten haben Zeit, eine Strategie zu planen – und ich lasse mir erst einmal eine neue Hüfte einpflanzen. Nach drei Wochen sitze ich wieder im Büro – in der Reha habe ich eine neue schmerzfreie Beweglichkeit gewonnen, ein neues Körpergefühl, das sich als sehr gute Ausrüstung bei der folgenden Schlacht gegen den Tumor erweisen sollte.

Fünfter Akt: Die Experten in der Strahlenklinik Erlangen haben einen Schlachtplan gemacht und „strahlen“ große Zuversicht aus, dass sie und ich gemeinsam diese Schlacht gewinnen werden. Inzwischen kenne ich fünf der sieben Kliniken in der UKE von innen … Und es muss jetzt losgehen: immerhin könnte der Tumor jederzeit seine Strategie ändern und sehr schnell sich über die Lymphbahnen in jeden Winkel des Körpers ausbreiten. Jetzt ist das Schlachtfeld noch auf die untere Hälfte meines linken Gesichts-Schädels begrenzt – auch keine Kleinigkeit. Man muss jetzt mit sehr hoher Strahlendosis das befallene Gewebe vollständig treffen. Ganz dicht neben Auge und Gehirn. Der Verbündete der Experten in der Strahlenklinik ist ein erst seit zwei Jahren existierendes Bestrahlungs-System… eines der ersten in Deutschland. Dabei werden die 3D-Daten aus der CT optimal benutzt, um den Tumor sehr exakt zu treffen, ohne das umliegende Gewebe zu stark zu schädigen. Als Physiker konnte ich in vollem Umfang verstehen, was da mit mir passierte. Ich arbeite durchgehend ganz normal weiter und fahre täglich die 45 km zur Strahlenklinik selbst. Nachträglich stellte ich fest, dass dies eine sehr gute Entscheidung war, weil ich mich selbst dabei als aktiven Teil in dieser „Schlacht“ wahrgenommen habe – und nicht als „Opfer“ dieser Schlacht. Das Opfer sollte dieser Fremdling in mir werden.

Sechster Akt: Die Schlacht ist geschlagen – alles hat funktioniert – die Experten sind zufrieden – mir stehen 1-2 Jahre Ungewissheit bevor, ob diese Schlacht gewonnen wurde. Die Nebenwirkungen der Bestrahlung waren dennoch heftig – aber noch erträglich. Auch wenn diese eine Schlacht gewonnen sein sollte, sagt kein Arzt dem Patienten, das der Krieg gewonnen ist – dazu ist der Gegner zu heimtückisch und man versteht ihn auch noch nicht gut genug…

… aber heute, mit einem günstigen Nachuntersuchungsergebnis nach Ablauf von fast zwei Jahren nach der Strahlentherapie ist die Gewissheit groß, dass DIESE Schlacht wirklich gewonnen wurde.

Das Fremdheitsgefühl, das dadurch ausgelöst wurde, dass ich das fremde, heimtückische Wesen in mir beherbergte, ist nun gewichen… und ich kann darüber sprechen.

Aphorismus des Tages: „Krankheit ist ein Diskurs, den mein Körper mit der Umwelt führt. Wenn ich mich zum Verbündeten meines Körpers mache, anstatt zu seinem Gegner oder seinem Opfer, kann ich mit ihm zusammen gewinnen.“ (Der Brandenburger Tor)

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 24. Dezember 2017

Nachtrag 2021: Auch nach insgesamt 5 Jahren nach der Strahlenbhandlung war der Befund weiterhin: Schlacht erfolgreich geschlagen – also quasi geheilt! Wenn sie sich über die verbalen Anleihen aus dem Militär/Kriegswesen wundern: glauben Sie mir – genau so fühlt es sich an!