Wie geht es der Republik? -1 – Nachwahlwehen

Hmmm – wie geht es uns?

Definiere „UNS“!

Und wenn es Dir gelungen sein sollte, UNS zu definieren: was ist die Diagnose für den Zustand des Patienten? Im Wahlkampf haben die selbsternannten Ärzte verschiedener Fachrichtungen ihre Diagnosen ausführlich erklärt. Dabei stellst Du fest: die Diagnosen sind eigentlich gar nicht so verschieden – sehr verschieden sind die Erklärungsversuche, was die Ursache des Patienten-Zustandes ist. Noch extremer ist aber die Differenz darin, was denn der Normale Zustand des Patienten wäre, und was am Zustand des Patienten krankhaft ist. Dummerweise hat der Patient dann noch eine EIGENE Vorstellung davon, was in seinem Zustand „normal“ ist (oder sein sollte) und was nicht gut.

Diese Diagnose muss dann auf 80 Millionen Einzelindividuen herunter gebrochen werden … mit dem Ziel eines einheitlichen Behandlungskonzeptes, das alle Patienten kurieren soll.

Alles das wird überlagert von etwas, das oft als eine gewisse „Stimmung“ über die Gesellschaft aller Patienten bezeichnet wird. Wahlforscher bezeichneten das im gegenwärtigen Zustand als „Wechsel-Stimmung“. Ja, es wird sogar ein Konsens konstatiert, dass eine Behandlung der Symptome DRINGEND sei, zumal dem Patienten von innen und außen neues und erhebliches Ungemach droht, dem auch noch vorzubeugen gilt.

Die Vorstellung der extrem unterschiedlichen Diagnosen und Behandlungskonzepte wird als Debatte geführt, wobei es sehr geringe Einschränkungen bezüglich der erlaubten Debatteninhalte gibt:

  • diese Ärzte sind selbsternannt, sie müssen keinen fachlichen Nachweis über ihre Qualifikation führen, ausser der Vorlage einer gewisse Zahl von Bestätigungen anderer Patienten, dass sie versuchen dürfen, Patienten zu behandeln. Diese Hürde ist sehr niedrig.
  • Die Beschreibung der Symptome und der Behandlungsmethoden wird nur durch Festlegungen im Grundgesetz bezüglich Menschenrechten und bestimmten historischen Ausschließungen im Bereich des Extremismus eingeschränkt. Die Einschränkungen müssen durch ziemlich hohe Gerichte bestätigt werden. Das ist eine sehr hohe Hürde, um Ärzte oder ihre Kuren zu zensieren oder auszuschließen.

Wenn es trotz aller Schwierigkeiten gelungen sein sollte, die Diagnose für alle Patienten zu erstellen und die Ärzte der verschiedenen Fachrichtungen ihr Behandlungskonzept vorgestellt haben, kommt es nun zum „Showdown“ der in der Demokratie ein echter CLOU ist:

Jetzt wählen die fachlich inkompetenten Betroffenen (d.h. Patienten) selbst aus, welche Ärzte und Behandlungsmethode sie sich für Ihren augenblicklichen Zustand wünschen – und diese Entscheidung ist prinzipiell sogar bindend – allerdings nicht in Bezug auf die Behandlungsmethode, sondern streng genommen nur in Bezug auf die Ärzte, die sie für eine gewisse Zeit kurieren sollen. Jeder Patient hat zwei Stimmen: er wählt eine Person als Behandler seiner Symptome in seinem lokalen  Wahlkreis aus und eine registrierte Ärzte-Gruppe (genannt Partei) mit Ihrer vorgestellten Behandlungsmethode.

Jetzt wird es kurz mal irrational: der Patient kann und darf dabei, wenn er denn will, eine Person wählen, deren Behandlungskonzept komplett entgegengesetzt zur Ärztegruppe ist, die er als „Partei“ wählt. Durch das System ist das nicht ausgeschlossen. Das ist Freiheit!

Sozusagen ist es die einzige Freiheit, die Ihnen letztlich die Freiheit garantieren könnte – gehen Sie wählen!

Berlin, den 22.2.2025

Der Brandenburger Tor

 

Nach-Wahl-Wehen – 2006 / 2025

Den folgenden Text habe ich im Jahr 2006 nach einer Kommunal-Wahl in Heidelberg geschrieben. Heute stellte ich fest, dass er anscheinend universelle Gültigkeit beanspruchen kann – und will ihn deshalb der Nachwelt nicht vorenthalten.

Gerade gestern – genau sieben Tage nach der BTW25 – stellte ich fest, dass straßauf-straßab alle Laternen noch mit Wahlplakaten geschmückt sind. Weit überwiegend sind es BLAUE. Von jener Partei, die behauptet genau zu wissen, was die Menschen sich wünschen. Sie haben erspürt: „…bitte lasst uns eure Konterfeis noch eine Weile genießen!“

Aber auch andere: so sah ich eine große Verkehrsinsel vollgestopft mit drei Riesen-Aufstellerplakaten mit Abbildern von Personen, die in der Führung ihrer Parteien in der beworbenen Zukunft alle erklärtermaßen keine Rolle mehr spielen wollen!

daher … siehe folgend! (Besonders bemerkenswert fand ich im Nachhinein das Postskriptum …)

Nach-Wahl-Wehen

Schadenfreude ist mir fremd!

Ehrlich!

Ich fühle wirklich mit den Politikern

nach so einer Wahl…

Das ist schließlich eine heikle Prozedur:

Nicht zu vergleichen mit einer Prüfung

im Schul- oder Berufsleben 

– wenn man

die versäbelt hat, 

weiß man meist schon, warum!

Aber das Urteil des Wählers

hat oft mehr mit dem Orakel von Delphi zu tun

als mit einer objektiven Benotung

der Politiker-Leistung!

Da hat sich einer brav in der

Regierungsverantwortung abgerackert –

Und wird vom Wähler abgewatscht,

er weiß nicht wofür?!

Allerdings: er oder seine Partei 

bekommt auch gleichzeitig ein 

Geschenk vom Wähler:

sie dürfen jetzt raus finden,

was sie das nächste Mal 

besser machen können

(ob’s hilft?).

Nun lecken sie ihre Wunden gemeinsam,

was sie wieder näher zusammen bringt

und vielleicht auch stärkt … oder auch nicht.

Da hat einer insgeheim selbst festgestellt,

dass er im Wahlkampf eine 

miserable Figur gemacht hat –

und wird vom Wähler mit dem

Siegeslorbeer beschenkt!

Die arme Sau!

Erschreckt stellt er fest,

Schluss mit dem Schwätzen –

Jetzt müssen wir regieren…

Und wendet sich nahtlos dem Kampf um die Posten zu.

Aber auch wir Wähler

bekommen mit der Wahlnacht ein Geschenk:

wir dürfen uns in den kommenden Tagen

die Plakat-Ruinen des vorangegangenen

Wahlkampfes ansehen.

Ein satirischer Genuss,

manchmal sogar eine Gaudi

im Wissen um das Ergebnis !

Die Sprüche und Posen

bekommen im Lichte der Resultate

oft eine völlig neue, unbeabsichtigte Bedeutung.

Dass die Betroffenen (meist die Verlierer) 

die Plakate dennoch

tage- und wochenlang

hängen lassen

zeugt vom Instinktverlust des Menschen:

Viele Tiere markieren ihr Revier

(meist mit Urin)

sorgen aber ansonsten dafür, dass Ihr

aktueller Standpunkt nicht so leicht

aufgespürt werden kann

(indem sie ihren Kot vergraben).

Wahlplakate sind erst der „Urin“, 

nach der Wahlnacht aber der „Kot“ 

der PolitikerInnen/Parteien:

sie sollten ihn noch am Wahlabend

vergraben!

Sollte ich einmal eine Partei gründen

(bitte halten Sie mich davon ab!)

werde ich als 

Paragraph eins 

in’s Statut schreiben:

„Alle Wahlplakate sind 

noch in der Wahlnacht

zu entfernen – 

100% !“

Danach darf gefeiert / Wunden geleckt werden. 

P.S:

Ich wünsche mir auch ein Geschenk vom Wähler:

Er möge seine Watschen-Wahltaktik 

bitte insofern überdenken,

dass nicht am Ende der Tage

die politische Klasse nur noch

aus opportunistischen Arschlöchern besteht.

Die Demokratie hält viel aus,

aber daran würde sie am Ende zugrunde gehen.

Copyright Herbert Börger, Heidelberg, 2006