Anfang einer Reise zum Meer

( …ein Märchen für kleine und große Menschen….)

– Sie funkeln aber ganz besonders strahlend!

sagte ein Wassertropfen zu einem anderen, der dicht neben ihm am selben Zweig eines großen Baumes hing.

– Danke, das haben sie nett gesagt, aber das ist sicher nur die helle, tief stehende Morgensonne…

erwiderte der angesprochene Wassertropfen und strahlte vor Glück noch ein bisschen heller.

– Ich liebe die Morgensonne,

fuhr er fort, um ja nicht den begonnenen Gesprächsfaden abreißen zu lassen,

– sie ist so wunderbar kühl. Die Mittagssonne zehrt schon arg an unseren schwellenden Formen. Man muss ja befürchten, schier zu verdampfen. Aber – wenn ich das sagen darf – von Ihnen geht so ein wunderbar tiefes Leuchten aus!

Der erste Tropfen, nennen wir ihn einfach „den Leuchtenden“, sagte darauf zum „Strahlenden“:

– Mir wird ganz schwindelig, wenn ich aus dieser Höhe von unserem Zweig herabblicke. Lange können wir uns wohl nicht mehr festhalten, wie ich merke. Wollen wir gemeinsam hinab springen?

Nun weiß jedes Kind, dass Wassertropfen von der Höhe nicht schwindelig wird!

So bleibt nur der Schluss, dass die Tropfen sich ineinander verknallt hatten und nun  bereits eine gemeinsame Zukunft planten, in dem sie ihre Reise zum großen Meer zusammen antreten wollten.

Dass diese Reise zum Meer führen würde, wussten sie zu diesem Zeitpunkt – wenige Minuten nach ihrer Geburt aus dem morgendlichen Tau hoch in der großen Eiche – natürlich noch nicht. (Es war schon erstaunlich genug, was der morgens geborene Wassertropfen über die Mittagssonne wusste.)

Dass das Meer das Ziel dieser Reise sein würde, wusste noch nicht einmal die große Eiche, die nun schon über 150 Jahre ihren Platz auf der Geländekuppe wenige Meter neben der Straße von Ulsenheim nach Seenheim behauptete. Sie ist in diesem Alter noch eine sehr jugendlich wirkende aber doch schon sehr stattliche Erscheinung, besonders durch die fast kugelförmige, schöne Krone.

Sie blickt von diesem Standpunkt am obersten Rand des Ehegrundes über ein weites, hügeliges Land bis hinüber zum Weinparadies.

Wenn Bäume, was wir nicht wissen, über ihre lange Lebenszeit ein Selbstbild von sich entwickeln sollten, dann muss sich diese Eiche wohl als Königin eines sanft gewellten Hügelreiches fühlen. Die „Königin des Oberen Ehegrundes“.

In ihrer hohen, noch winterlich kahlen Krone sind an einem weit außen stehenden Zweig heute morgen die beiden Tautropfen geboren und sogleich von der Morgensonne verzaubert worden.

Auch wenn die Eiche in diesem jungen Alter noch nichts vom Meer gehört hatte, so wusste sie doch schon sehr viel vom Leben – besonders von dem in ihrer näheren Umgebung.

So sprach die Eiche zu den beiden flirtenden Tautropfen, da sie ja nicht vermeiden konnte, deren Gespräch zu lauschen:

– Erlauben Sie, dass ich mich einmische, aber obwohl Sie zweifelsfrei – ganz im Gegensatz zu mir! – laufen, springen, fließen, kurz: sich fortbewegen können, ist es ein Irrtum, wenn Sie glauben, dies unterliege ihrem freien Willen.

Sie können leider nicht selbst bestimmen, wann Sie hinunter fallen wollen.

– Nicht?, fragte der Strahlende enttäuscht.

– Nein, und glauben Sie mir, es ist besser so!, bekräftigte die Eiche. Wenn jeder tun dürfte was er wollte, dann käme bestimmt nichts Gescheites heraus. Sie folgen in Ihrem Handeln einem höheren Gesetz und es ist keine Schande, dass sie das nicht wissen, denn Sie sind noch sehr jung!

– Danke für Ihr Verständnis, hauchte der Leuchtende sehr beeindruckt. Es wird uns eine Ehre sein, diesem Gesetz zu folgen.

– Noch etwas, setzte die Eiche hinzu: Aus der gemeinsamen Reise von hier aus wird leider auch nichts. Genau zwischen Ihnen läuft durch mein Reich (aha: also doch herrscherliches Bewusstsein!) eine Linie. Mann nennt sie die Wasserscheide.

Der Leuchtende blickte hinab und sagte:

– Ich sehe keine Linie!

– Das ist so etwas wie das höhere Gesetz, von dem ich sprach, das kann man auch nicht sehen. Es bedeutet folgendes:

Wenn ein Tropfen auf der einen Seite dieser unsichtbaren Linie auf den Boden fällt, macht er sich auf den Weg nach Osten und wird ein Stück weiter da unten als Ehebach wieder an die Oberfläche kommen, der weiter nach Osten fließt.

Der Tropfen, der auf der anderen Seite der Linie herab fällt, macht sich auf den Weg nach Süden und kommt bald als Seenheimer Mühlbach ans Tageslicht.

Das sind die Wege, die jedem von Ihnen bestimmt sind, je nach der Stelle, an der er im Reich meiner Astkrone das Licht der Welt erblickt.

– Schade, jammerte der Strahlende, der plötzlich immer größer und runder wurde, dabei noch heller als vorher erstrahlte und rief:

– Oh, ich kann  mich nicht mehr festhalten – leben sie wohl!

…und fiel hinab auf den Boden, in dem er sich – wie von der Eiche vorausgesagt, nach Süden auf den Weg machte.

– Schade, dass er jetzt schon gehen musste, sagte die Eiche. Ich bin noch nicht fertig. Das Leben ist sehr vielfältig und nie ganz genau vorher zu sehen.

– Wird das denn nicht alles von dem höheren Gesetz bestimmt, wie Sie gesagt haben?

  Eigentlich ja, aber wenn sehr viele Wassertropfen sich auf den Weg machen und Bäche und Flüsse bilden, gilt das Gesetz eigentlich nur für alle zusammen, und man kann nie ganz genau sagen, was mit dem einzelnen Tropfen geschieht.

– Aha!, sagte der Leuchtende, aber man merkte, dass er das nicht ganz verstanden hatte…

– Kurz und gut: es gibt für Euren gemeinsamen Weg noch eine Hoffnung.

– Oh ja?! stieß  der zurückgebliebene Tropfen hervor und leuchtete immer tiefer, weil auch er sich sichtbar immer mehr rundete.

– Erzähl, bitte, schnell!

– Es gibt weise Vögel, die viel herumkommen und wirklich alles in der Welt verstehen. Die besuchen mich manchmal und haben mir folgendes erzählt.

– Erzähl schneller, bitte! drängte jetzt der Leuchtende, weil er merkte, dass er sich nicht mehr lange an dem Zweig halten konnte.

– Der Strahlende wird auf seinem Weg nach Süden sehr bald in das Flüsschen Aisch gelangen. Das fließt auch nach Osten, wendet sich aber bald nach Nord-Ost, und irgendwann mündet dann der Ehe-Bach, in dem Sie reisen werden, auch in die Aisch. Wenn Sie noch eine Weile hier aushalten, kann es sein, dass Sie beide sich dort wieder treffen.

– Oh ja!, hauchte der Tropfen, leuchtete versonnen noch tiefer und schien sich wieder fester an den Zweig zu klammern – obwohl wir ja wissen, dass er das nun wirklich nicht kann. Aber vielleicht gibt es ja doch noch etwas über dem höheren Gesetz, was die Eiche noch nicht weiß. Denn für eine Eiche ist sie ja noch sehr jung…

Nun hat die königliche Eiche, wie eigentlich alle herrschenden Persönlichkeiten, leider auch einen kleinen Zug zur Grausamkeit!

Das kommt vermutlich von der Einsamkeit und Selbstbezogenheit, in der man als Solitär-Baum die Jahrhunderte ohne Gleichartige neben sich verbringt.

So sprach die Eiche weiter zu dem Tropfen, der sich eben neue Hoffnung gemacht hatte, den Strahlenden doch wieder zu sehen:

– Allerdings – es gibt auch immer noch eine dritte Möglichkeit.

– So?, murmelte der Leuchtende, hellhörig geworden durch den anderen Ton in der Rede der Eiche.

– Ja, wenn Sie zu Boden gefallen sein werden, und Ihren Weg zur Quelle des Ehebaches suchen, kann es sein, dass Sie an eine der Wurzeln  geraten, mit denen ich mich da unten im Erdreich festhalte.

Sieh an, dachte der Leuchtende, da hat die Eiche also sogar zwei Reiche, eins hier oben und eins da unten. Sagte aber nichts, um sie nicht von ihrer Erzählung abzulenken.

– Und wenn das passiert, fuhr die Eiche fort, saugen meine Wurzeln Sie auf und senden Sie wieder hier hinauf – aber diesmal im Inneren meiner Äste und Zweige. Dann werden Sie dabei helfen, dass meine Krone hier oben immer prächtiger und schöner wird – zusammen mit den Sonnenstrahlen, die Sie gerade noch genießen.

– Oh, wisperte der Leuchtende, das würde mir natürlich eine große Ehre sein – ach! ich falle! – danke für die Warnung!

…und fiel hinab.

Gut, dass der Tropfen wieder vergessen hatte, was die Eiche über seinen vermeintlich freien Willen gesagt hatte.

Da war nicht eine Wurzel unter der Eiche, es waren Millionen!

Geschickt, wie er sich einbildete, entkam er allen, auch wenn er oft schon gefährlich nahe einen starken Sog verspürte – und als er schließlich  in der Quelle des Ehe-Baches angekommen war, war er doch schon ziemlich stolz auf sich!

Als der Leuchtende nach vielfach schlängelndem Laufe des Baches zwischen Weidenbäumen durch Wiesen von einer Seite des flachen Tales zur anderen wechselnd erst einmal Krautostheim hinter sich gelassen hatte, ging es schneller zu Tale.

Dort erblickte ihn das Kätzchen, das um diese Tageszeit (bei schönem Wetter) immer in der Dachrinne der Remise an der Modelsmühle sitzt. Es kann von dort eine Stelle des Baches sehen, an der der Ehe-Bach munter durch eine Biegung des Bachbettes auf die Mühle zu springt. Es sah das helle Aufblitzen, als der Leuchtende durch die Bach-Schnellen eilte und musste dann sehr lange nachdenken, ob es vielleicht die Schuppen eines Fischleins waren, das sich damit abmühte, den Ehe-Bach hinauf zu schwimmen, und das ein willkommenes zweites Frühstück abgegeben hätte.

Dann blieb es aber sitzen, weil es – ganz richtig – meinte, dass es doch kein Fischlein gewesen sei und schlief wohlig in der Morgensonne ein.

Sonst sah niemand den Leuchtenden auf seiner Reise…

Als der Ehe-Bach erst einmal Sugenheim hinter sich gelassen hatte, war das Gewässer kräftig angeschwollen, es floss nun zwischen Erlen dahin, aber die Reise war nicht mehr so flott. Noch weiter talab, bei dem Weiler Ehe, schleppte sich schließlich das Flüsschen träge und trübe dahin.

Wenn unser Reisender nicht nur ein Wassertropfen gewesen wäre, sondern jemand mit Kenntnissen über das menschliche Leben, so hätte er durchaus eine Parallele feststellen können zwischen diesem Bachlauf und jener Ehe, die kein Bach ist…

Aber unser Reisender ist nur ein Wassertropfen, und ein frisch verliebter dazu! Also versteht er davon nichts.

Auch wenn er nun hier mit Trillionen von anderen Tropfen gemeinsam das träge zwischen wallenden Wasserpflanzen dahin gleitende Flüsschen Ehe bereist, so zweifelte er doch keine Sekunde daran, dass er den Strahlenden zwischen allen den anderen wieder erkennen würde, sollte er dort sein, wo sich der Ehe-Bach mit der Aisch vereinigen wird.

Plötzlich ist der Augenblick gekommen. Dies merkt der Leuchtende daran, dass sie alle nach links fortgerissen werden! Und tatsächlich. im gleichen Moment eilt – ja rast sogar – der Strahlende auf  ihn zu! Nur kurze Zeit, allerdings, fließen sie nebeneinander her, dann entfernt sich der Strahlende schnell wieder in eine dunkle Nische des Flussbettes.

In der kurzen Zeit, in der der Strahlende ihn begleitete, hatte er folgendes eilig hervorgesprudelt:

– Ein Wirbel – ich sitze hier schon länger fest – immer im Kreis! Ein Fisch namens Lachs hat mir erzählt, dass wir alle zum Meer wandern. Dort treffen wir uns wieder.

– Warte dort auf mich!, rief er noch, als er sich wieder entfernte.

Dann waren sie wieder auseinander gerissen.

Die anfängliche Enttäuschung des Leuchtenden wurde bald durch die Gewissheit verdrängt, die die Worte des Strahlenden über ein Wiedersehen im Meer geschaffen hatten.

Er würde den Lachs genauer befragen, wenn er ihn treffen sollte.

…aber das, und die Frage, ob es Lachse in der Aisch gibt, ist eine andere Geschichte, wie ein Kollege von mir hier sagen würde, und was man besser wirklich nicht sagen kann!

Solltet ihr aber Zweifel haben, ob die ganze Geschichte denn stimmt, dann hört euch bitte einmal das Orchesterwerk „Die Moldau“ von Friedrich (Bedrich) Smetana genau an:

Bevor man dort hört, wie das Rinnsal zum Bach, der Bach zum Fluss und der Fluss zum Strom wird, der zum Meer strebt – ganz am Anfang des Musikstückes – hört ihr, wie im stillen, feucht-dampfenden Wald die Wassertropfen von den Bäumen auf den Blätter- oder Grasteppich darunter fallen und dann im Waldboden zur Quelle sickern… nur dass die Quelle in dieser Musik die Quelle der Moldau ist, in Böhmen, der Heimat von Smetana, dem heutigen Tschechien, und nicht die Quelle des Ehe-Baches.

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Der starke Vielfraß und das Wunderkraut – (k)ein Märchen

Es war einmal (und es war vielleicht auch nicht – wie in türkischen Märchen hinzugesetzt werden soll, wie ich hörte …) ein unglaublich starker Mann. Er saß auf einem schönen, traditionsreichen und fruchtbaren Land. Da er so stark war, die meisten Menschen aber in Ruhe leben wollen, hatte er die Macht im Lande an sich gezogen und man hatte teils aus Bequemlichkeit, teil aus Angst dies zugelassen.

Der unglaublich starke Mann brauchte aber auch unglaublich viel Fressen, um seine Macht, die er immer mehr auf seine einzige Person zugeschnitten hatte zu befriedigen.

Nachdem er schließlich das ganz Land leergefressen hatte und schon fast keiner mehr wagte, seinen Anteil am Ertrag des Landes einzufordern richtete er seinen Augenmerk auf die Grenzen des Landes und sah alle die guten Früchte, die die Menschen dort zur Verfügung hatten.

„Ihr müsst mir davon abgeben!“ rief er denen zu, „denn ich bin unglaublich stark und ich habe nichts, während Ihr im Luxus lebt. Das ist ungerecht!“ Erst drohte er nur – und dann fing er an, sich zu nehmen, was er von den Nachbarn wollte. Erst kleine Portionen, dann immer größere.

Er fraß und fraß.

Die Nachbarn fingen an, an den Grenzen des Vielfraßes stachelige und übel riechende Gewächse anzupflanzen. Aber es half nichts: der unglaublich starke Mann hatte längst aufgehört, irgendetwas zu schmecken oder zu fühlen – weder stachelig noch bitter – nichts schien ihm etwas anhaben zu können. Wenn er dann die Macht übernommen hatte, riss er alles an sich, denn er war inzwischen der Meinung, dass es für die Menschen da draußen historisch viel großartiger sei, unter seiner Macht zu verhungern, als einfach so dahin zu vegetieren, ohne seiner Größe zu dienen.

In seinem Fressens-Rausch hatte der unglaublich starke Mann völlig vergessen an seine liebe Großmutter zu denken. Großmütterchen hatte ihn als Kind gehätschelt und behütet – nun wurde sie von ihm nicht mehr beachtet. Sie war aber jetzt von großer Sorgen gebeugt, darüber, was aus ihrem Enkel geworden war.

Nun gut, sagte sie zu sich, wir haben bei Vladis Erziehung versagt: wir müssen versuchen das wieder gut zu machen. Und so machte sie sich auf den Weg, um ein Kräutlein zu suchen, dass ihren Enkel heilen könnte. Sie zog durch das Land, sie sprach mit allen Weisen des Volkes und bekam dabei so manchen Rat, pflückte dann ein Kraut, das sie dann an seine Leibspeise, das „Oligarchen-Schutzgeld“ , mischte. Aber nichts wirkte, nichts bewegte den Vielfraß zu einer Umkehr.

Eines Tages traf sie eine uralte Frau, die ihr Ur-Ur-Enkelkind auf dem Schoß hätschelte. Die Greisin gab ihr lächelnd folgenden Rat: „Von weisen Männern, die selbst schon ihr Leben lang unter der Macht des unglaublich starken Mannes leben, kannst Du keine Hilfe erwarten. Suche das „Weise Kind“ – es kennt die Lösung. Durchwandere die Dörfer – es könnte in jedem einzelnen sein.“

So durchwanderte die Großmutter des unglaublich starken Mannes viele Dörfer in der Mitte des Landes und beobachtete dort das Leben und achtete besonders auf die Kinder.

Eines Tages fand sie vor einem Dorf ein Kind von etwa 8 Jahren in einem Feld kauern, das sanft und zart ein zierliches Grünpflänzchen zu hegen schien. Es strich über die Blätter des Krautes und zog immer wieder leicht aber über eine längere Zeit daran. Ab und zu erhob das Kind den Blick und lächelte die alte Frau an, die geduldig zu Warten beschlossen hatte, um zu erleben, was hier geschah. Irgendwie hatte sie das Gefühl, hier am Ziel zu sein.

Das Pflänzchen bildete zusammen mit tausenden gleichen Kräutern eine schimmernde Wiese, die sich über den ganzen Talgrund des Baches ausbreitete. Das Kind schenkte seine ganze Aufmerksamkeit aber ausschließlich einer einzigen kleinen Pflanze am Rande der Wiese.

Nachdem die Großmutter dem Kind eine Stunde zugeschaut hatte, fragte sie das Kind: „Wie nennst Du das Kraut – und was tust Du damit: wirst Du es pflücken?“

„Es heißt Wunderkraut“, sagt das Kind, „ja, ich werde es pflücken, aber das dauert noch einige Zeit. Es ist mühselig, aber es erhält uns als Gemeinschaft, sagt meine Urgroßmutter. “

„Was machst Du dann mit dem Kraut?“

„Ich bringe es meiner Urgroßmutter, die mir beigebracht hat, das Kraut zu ernten. Die wird es an unser Abendessen tun, damit es uns stark und gesund erhält.“

„Musst Du jeden Tag so lange Zeit damit verbringen, ein einziges Kraut zu pflücken?“

Inzwischen hatte sich ein alter Mann genähert und setzte sich ein Stück weiter ebenfalls an den Wiesenrand und begann ein Kraut zu hegen.

„Nein, das tut jeden Tag am Nachmittag ein anderes Familienmitglied. Man kann sich eigentlich auch nicht dabei unterhalten, denn ich muss, während ich immer wieder sanft an der Pflanze ziehe, meine Gedanken hinab senden zu den Wurzeln – sie sind zehnmal länger als die Pflanze selbst. Dabei erfahre ich ihre Gesetze und kann sie schließlich mit sanfter Kraft heraus ziehen. Wenn Du hier bleibst, kannst Du erleben, was dann passiert.“

Dann schwieg das Kind wieder und widmete sich – genau wie der alte Mann in der Nähe – nur noch der Pflanze.

Die Großmutter saß da und verlor vollständig das Gefühl für die Zeit, obwohl inzwischen etwa zehn weitere Menschen sich am Wiesenrand dazu gesellt hatten. Deshalb konnte sie hinterher auch nicht genau sagen, wie lange es dauerte, bis sich das Kind aufrichtete und glücklich strahlend das Pflänzchen mit dem langen, unversehrten Wurzelgeflecht daran in die Höhe hielt. Es lief ein freundliches Raunen durch die Menschengruppe – auch mit einem „Gut gemacht, Yuri“ dazwischen.

Das Erstaunlichste aber war, dass in dem Moment, in dem das Kind die Pflanze mit der Wurzel heraus gezogen hatte, ein wundervoller Duft die Luft erfüllte, der bewirkte, dass unmittelbar ein tiefes Glücksgefühl die Großmutter durchströmte. Das überzeugte sie davon, dass hier etwas ganz Besonderes geschah, denn eigentlich war sie durch die Sorge um ihren Enkel schon ganz grämlich geworden.

Das Kind lief zu seiner Urgoßmutter und die Großmutter des unglaublich starken Mannes folgte ihm und lernte nun die Menschen im Dorf kennen, die sie mit freundlicher Gastlichkeit empfingen. Leider musste sie erfahren, dass man das „Wunderkraut“ nicht haltbar machen konnte, damit sie es mitnehmen konnte. Sie musste sich damit begnügen, nun diese Geschichte zu kennen und mit sich führen zu können.

Leider ist es ja gar nicht so verwunderlich, dass „Großmutter Vielfraß“ in gleichem Grade dumm war, wie ihr Enkel stark  zu sein glaubte. Man muss ihr wohl aber zugute halten, dass sie verständlicherweise daran glaubte, dass auch in ihrem Enkel tief drinnen etwas Gutes schlummerte, von dem sie hoffte, dass es durch das Wunderkraut zum Vorschein gebracht werden könnte.

Also ging sie zu ihrem Enkel und berichtete ihm von ihrem Fund und schlug ihm vor, von dem Kraut zu kosten, da es anscheinend die Menschen weise und friedlich mache.

Der unglaublich starke Mann ließ sofort seine Truppen in das Nachbarland einmarschieren und verkündete: „Ihr habt das unglaubliche Glück, dass ich die Last auf mich nehme, auch Euch zu beschützen und für Euch zu sorgen. Zum Ausgleich müsst Ihr mir nur Euren Besitz aushändigen.“ Daraufhin verfiel das Land in großes Elend und eine Hungersnot brach aus, da der Vielfraß ja alles Essbare für sich brauchte.

Aus dem Gebiet des Wunderkrautes ließ er alle Menschen evakuieren, die Region streng bewachen und seine Truppen mussten einen geschützten Korridor bilden, durch den er schließlich zum Wunderkraut gelang. Denn obwohl er glaubte, der stärkste und natürlich weiseste Mann der Welt zu sein – denn er glaubte selbstverständlich selbst alles, was er der Welt ständig über sich und seine Größe bekannt gab – hatte er mittlerweile panische Angst vor dem kleinsten Mäuslein, von dem er annahm, dass es ein Instrument seiner Feinde sei, die ihn vernichten wollten.

Von der Erzählung seiner wunderlichen alten Großmutter glaubte er natürlich kein Wort, sondern befahl, das Wunderkraut mit allen möglichen Werkzeugen und Maschinen auszugraben und zu ernten: aber man roch nichts, wer die matschigen, zerzausten Kräutlein auf seinen Befehl probierte, schmeckte und spürte nichts davon.

Als schon fast alle Flächen, die vom Wunderkraut bewachsen waren, bis auf wenige Kräutlein verwüstet waren, ordnete er an, dass seine Großmutter seinen drei Vizegenerälen ihre Geschichte noch einmal erzählte. Alle drei mühten sich ab, ein Kräutlein mit Geduld heraus zu ziehen. Zwei Vizegeneräle mühten sich vergeblich – dem letzten aber gelang es nach vielen Stunden. Als er den Duft der herausgezogenen Wurzeln wahr nahm, wurden ihm die Last und Verantwortung all seiner Untaten als Helfershelfer des unglaublich starken Mannes schlagartig bewusst und er tötete sich selbst augenblicklich, indem er sich in sein Schwert stürzte. Die anderen beiden Vizegeneräle brachte der Vielfraß eigenhändig um, da sie versagt hatten.

Die Großmutter des starken Mannes kehrte traurig und erschüttert nach Hause zurück. Da wurde ihr heimlich die Nachricht überbracht, dass das Kind, das sie zuerst bei dem Wunderkraut getroffen hatte, in einem Kerker der Hauptstadt gefangen sei. Sofort machte sie sich auf den weg dorthin. Sie verspürte das Bedürfnis, sich bei dem Kind zu entschuldigen.

Das Kind nahm aber die Entschuldigung der Großmutter nicht an. Es sagte:

„Was Du getan hast, hast Du getan und es hatte schreckliche Folgen. Ich kann Dir aber nicht verzeihen, da Du das, was Du tun KÖNNTEST, nicht getan hast – und Du bist die einzige, die es tun kann: versohle Deinem Enkel, der glaubt, ein unglaublich starker Mann zu sein, den Hintern … denn Du bist die Einzige, die das tun kann!“

„Ich bin eine schwache, alte Frau,“ erwiederte die Großmutter des starken Mannes, „wie könnte ich meinen Enkel körperlich züchtigen?“

„Du kannst!“ erwiederte das Kind. „Aber Du willst es nicht. Wenn Du es nicht tust, musst Du mit der Schuld leben.“

Zweifelnd machte sich die Großmutter auf den Weg. Sie erkannte aber, dass der Rat des Kindes die einzige Möglichkeit darstellte, an der Situation etwas zu ändern. Sie erwartete, dass der Enkel sie mit einem Schlag zerschmettern würde, wenn sie versuchen würde ihm Gewalt anzutun. Aber sie erkannte, dass es die einzige Möglichkeit sein würde, sich von Ihrer Schuld zu befreien.

So ging sie zu Ihrem Enkel, dem unglaublich starken Mann, legte ihn über das Knie und versohlte ihm den Hinter, dass er drei Wochen nicht mehr sitzen konnte. Dann stellte sie ihn ein Ultimatum: wenn er die Regierung nicht niederlegte, würde sie aller Welt erzählen, dass sie ihn über das Knie gelegt hatte – und es auch noch öffentlich wieder tun, sodass alle es sähen.

Da sah der unglaublich schwache starke Mann ein, dass sein Spiel aus war und zog sich hinter die sieben Berge zurück.

Seine Großmutter aber rief die im Land die Republik aus und machte das Kind und seine Großmutter zu Sonderministern für die Neuaufzucht des Wunderkrautes überall im Lande – und sie lebten glücklich und in Frieden.

Berlin, den 31. März 2022

Der Brandenburger Tor

 

Das fängt ja gut an – 279 – Das Wintermärchen von der weisen Königin

Deutschland – ein Wintermärchen

Es war einmal eine weise Königin. Die regierte ihr Land schon lange und hatte es gut getroffen: denn in ihrem Lande war schon vor vielen Jahrzehnten eine Seuche aufgebrochen, die die Menschen nicht im Geringsten in ihrer Kraft und Leistung beeinträchtigte sondern ausschließlich auf ihre Gedanken wirkte: die Untertanen der Königin hatten eine große, verstörende Angst vor Veränderungen und damit waren sie auch in Bezug auf die Zukunft eher ängstlich, denn alle Veränderungen liegen ja bekanntlich dort …

Ganz großartig fanden die Untertanen der Königin aber die Vergangenheit – die machte ihnen überhaupt keine Angst. Sie hegten und pflegten die alte Kultur ihrer Vorfahren und in keinem Land der Welt gab es mehr Museen, Konzertsäle und Theater.

Es war üblich, dass die Städte, die nach dem letzten großen Krieg sehr stark beschädigt waren, möglichst historisch oder altertümlich rekonstruiert wurden – manchmal sogar in einem älteren Stil als in dem direkt vor der letzten Zerstörung! Als sie plötzlich feststellten, dass es in ihrer Hauptstadt gar kein Schloß mehr gab (der Königin war sowas nämlich egal!) wurden die Bürger furchtbar aufgeregt, kramten ihre Ersparnisse hervor und ließen sich das Schloss genauso wieder aufbauen, wie es vor 300 Jahren gewesen war.

Damit niemand auf die Idee kann, dass sie den alten Kaiser wieder haben wollten (der hatte nämlich keinen so guten Ruf! Der hatte das mit den Kolonien versemmelt!) nannten sie das neugebaute Schloß nach einem berühmten Aufklärer aus diesem Lande – ohne allerdings nachzudenken, was der wohl heute anstatt dessen gemacht hätte und ob der solch ein Denkmal haben wollte…

Weil die weise Königin den Menschen versprach, dass sie gut auf sie  aufpassen würde, waren die Menschen zufrieden und lobten die Königin.

Obwohl das alles so wunderschön war, ist es leider nicht so geblieben, denn – das lehrt uns die Geschichte – es gibt immer irgendwelche Unzufriedenen, denen auch das Gute nicht gut genug ist und die damit alles kaputt machen!

Da war eine kleine aber plötzlich sehr laute Gruppe, die hatte besonders viel Angst! Die sagte: „Ihr habt uns belogen – es hat sich doch etwas verändert und wir wollen, dass das wieder rückgängig gemacht wird. Wir wollen alles so haben wie früher, da haben wir uns viel wichtiger gefühlt – jetzt kommen lauter fremde Leute in das Land und die werden wichtiger genommen wie wir. Wir finden aber, dass wir die wichtigsten Menschen sind und wollen alles wieder wie früher haben!“ Die Anführer dieser Gruppe waren von der Angst-Seuche ganz besonders stark befallen und hatten es sich zur Aufgabe gemacht, allen anderen auch in ihrer Angst zu bestärken.

Das war ein bißchen mehr als ein Zehntel der Menschen und die waren ziemlich laut und ungehobelt – sie forderten sogar, dass die Königin weg sollte!

Die andere Gruppe bestand aus Leuten, die sagten: „Man muß nicht Angst vor Veränderungen haben sondern davor, dass sich nicht genug verändert! Wenn wir immer so bleiben, wie wir sind, werden wir erstarren, verschimmeln und vermodern!“ Die waren vor allem gebildet und nicht so laut, weshalb man sie schlechter hören konnte. Die Zahl dieser Unzufriedenen war eigentlich viel größer – mehr als drei mal so groß!

Aber diese Gruppe war aufgespalten in mehrere kleinere Grüppchen, die sich gegenseitig nicht ausstehen konnten. Wenn einer sagte: „Das ist rot!“ dann sagte der andere „Nein, das ist grün!“ und der dritte sagte „Das ist gelb!“ und noch einer sagte: „Das ist noch viel röter als rot!“

Die waren der Königin auch böse – aber sie hatten ein ganz großes Problem: sie hatten sehr viel Angst vor den lauten und ungehobelten Menschen, die alles wieder wie ganz früher haben wollten.

Alle Unzufriedenen zusammen waren viel mehr als die Zufriedenen, die die Königin immer noch priesen – aber es nützte ihnen nichts, weil sie sich miteinander stritten und nicht mit der Königin stritten.

Dadurch wird die Königin immer weiter weise, zufrieden und ruhig ihr Land regieren können, obwohl sie bald gar keine zufriedenen Untertanen mehr haben wird – aber die haben ja eben doch am meisten Angst vor Veränderungen – und vor den anderen Farben ihrer Konkurrenten.

Es ist Winter und alles ist vom eisigen Reif der Angst und Unzufriedenheit überzogen und die Deutschen ziehen sich ihre Bettdecke bis an die Nasenspitze, damit es ja nicht ungemütlich wird!

Und so wird die weise Königin bis in alle Zukunft weiter regieren!

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 22. Januar 2018