Anfang einer Reise zum Meer

( …ein Märchen für kleine und große Menschen….)

– Sie funkeln aber ganz besonders strahlend!

sagte ein Wassertropfen zu einem anderen, der dicht neben ihm am selben Zweig eines großen Baumes hing.

– Danke, das haben sie nett gesagt, aber das ist sicher nur die helle, tief stehende Morgensonne…

erwiderte der angesprochene Wassertropfen und strahlte vor Glück noch ein bisschen heller.

– Ich liebe die Morgensonne,

fuhr er fort, um ja nicht den begonnenen Gesprächsfaden abreißen zu lassen,

– sie ist so wunderbar kühl. Die Mittagssonne zehrt schon arg an unseren schwellenden Formen. Man muss ja befürchten, schier zu verdampfen. Aber – wenn ich das sagen darf – von Ihnen geht so ein wunderbar tiefes Leuchten aus!

Der erste Tropfen, nennen wir ihn einfach „den Leuchtenden“, sagte darauf zum „Strahlenden“:

– Mir wird ganz schwindelig, wenn ich aus dieser Höhe von unserem Zweig herabblicke. Lange können wir uns wohl nicht mehr festhalten, wie ich merke. Wollen wir gemeinsam hinab springen?

Nun weiß jedes Kind, dass Wassertropfen von der Höhe nicht schwindelig wird!

So bleibt nur der Schluss, dass die Tropfen sich ineinander verknallt hatten und nun  bereits eine gemeinsame Zukunft planten, in dem sie ihre Reise zum großen Meer zusammen antreten wollten.

Dass diese Reise zum Meer führen würde, wussten sie zu diesem Zeitpunkt – wenige Minuten nach ihrer Geburt aus dem morgendlichen Tau hoch in der großen Eiche – natürlich noch nicht. (Es war schon erstaunlich genug, was der morgens geborene Wassertropfen über die Mittagssonne wusste.)

Dass das Meer das Ziel dieser Reise sein würde, wusste noch nicht einmal die große Eiche, die nun schon über 150 Jahre ihren Platz auf der Geländekuppe wenige Meter neben der Straße von Ulsenheim nach Seenheim behauptete. Sie ist in diesem Alter noch eine sehr jugendlich wirkende aber doch schon sehr stattliche Erscheinung, besonders durch die fast kugelförmige, schöne Krone.

Sie blickt von diesem Standpunkt am obersten Rand des Ehegrundes über ein weites, hügeliges Land bis hinüber zum Weinparadies.

Wenn Bäume, was wir nicht wissen, über ihre lange Lebenszeit ein Selbstbild von sich entwickeln sollten, dann muss sich diese Eiche wohl als Königin eines sanft gewellten Hügelreiches fühlen. Die „Königin des Oberen Ehegrundes“.

In ihrer hohen, noch winterlich kahlen Krone sind an einem weit außen stehenden Zweig heute morgen die beiden Tautropfen geboren und sogleich von der Morgensonne verzaubert worden.

Auch wenn die Eiche in diesem jungen Alter noch nichts vom Meer gehört hatte, so wusste sie doch schon sehr viel vom Leben – besonders von dem in ihrer näheren Umgebung.

So sprach die Eiche zu den beiden flirtenden Tautropfen, da sie ja nicht vermeiden konnte, deren Gespräch zu lauschen:

– Erlauben Sie, dass ich mich einmische, aber obwohl Sie zweifelsfrei – ganz im Gegensatz zu mir! – laufen, springen, fließen, kurz: sich fortbewegen können, ist es ein Irrtum, wenn Sie glauben, dies unterliege ihrem freien Willen.

Sie können leider nicht selbst bestimmen, wann Sie hinunter fallen wollen.

– Nicht?, fragte der Strahlende enttäuscht.

– Nein, und glauben Sie mir, es ist besser so!, bekräftigte die Eiche. Wenn jeder tun dürfte was er wollte, dann käme bestimmt nichts Gescheites heraus. Sie folgen in Ihrem Handeln einem höheren Gesetz und es ist keine Schande, dass sie das nicht wissen, denn Sie sind noch sehr jung!

– Danke für Ihr Verständnis, hauchte der Leuchtende sehr beeindruckt. Es wird uns eine Ehre sein, diesem Gesetz zu folgen.

– Noch etwas, setzte die Eiche hinzu: Aus der gemeinsamen Reise von hier aus wird leider auch nichts. Genau zwischen Ihnen läuft durch mein Reich (aha: also doch herrscherliches Bewusstsein!) eine Linie. Mann nennt sie die Wasserscheide.

Der Leuchtende blickte hinab und sagte:

– Ich sehe keine Linie!

– Das ist so etwas wie das höhere Gesetz, von dem ich sprach, das kann man auch nicht sehen. Es bedeutet folgendes:

Wenn ein Tropfen auf der einen Seite dieser unsichtbaren Linie auf den Boden fällt, macht er sich auf den Weg nach Osten und wird ein Stück weiter da unten als Ehebach wieder an die Oberfläche kommen, der weiter nach Osten fließt.

Der Tropfen, der auf der anderen Seite der Linie herab fällt, macht sich auf den Weg nach Süden und kommt bald als Seenheimer Mühlbach ans Tageslicht.

Das sind die Wege, die jedem von Ihnen bestimmt sind, je nach der Stelle, an der er im Reich meiner Astkrone das Licht der Welt erblickt.

– Schade, jammerte der Strahlende, der plötzlich immer größer und runder wurde, dabei noch heller als vorher erstrahlte und rief:

– Oh, ich kann  mich nicht mehr festhalten – leben sie wohl!

…und fiel hinab auf den Boden, in dem er sich – wie von der Eiche vorausgesagt, nach Süden auf den Weg machte.

– Schade, dass er jetzt schon gehen musste, sagte die Eiche. Ich bin noch nicht fertig. Das Leben ist sehr vielfältig und nie ganz genau vorher zu sehen.

– Wird das denn nicht alles von dem höheren Gesetz bestimmt, wie Sie gesagt haben?

  Eigentlich ja, aber wenn sehr viele Wassertropfen sich auf den Weg machen und Bäche und Flüsse bilden, gilt das Gesetz eigentlich nur für alle zusammen, und man kann nie ganz genau sagen, was mit dem einzelnen Tropfen geschieht.

– Aha!, sagte der Leuchtende, aber man merkte, dass er das nicht ganz verstanden hatte…

– Kurz und gut: es gibt für Euren gemeinsamen Weg noch eine Hoffnung.

– Oh ja?! stieß  der zurückgebliebene Tropfen hervor und leuchtete immer tiefer, weil auch er sich sichtbar immer mehr rundete.

– Erzähl, bitte, schnell!

– Es gibt weise Vögel, die viel herumkommen und wirklich alles in der Welt verstehen. Die besuchen mich manchmal und haben mir folgendes erzählt.

– Erzähl schneller, bitte! drängte jetzt der Leuchtende, weil er merkte, dass er sich nicht mehr lange an dem Zweig halten konnte.

– Der Strahlende wird auf seinem Weg nach Süden sehr bald in das Flüsschen Aisch gelangen. Das fließt auch nach Osten, wendet sich aber bald nach Nord-Ost, und irgendwann mündet dann der Ehe-Bach, in dem Sie reisen werden, auch in die Aisch. Wenn Sie noch eine Weile hier aushalten, kann es sein, dass Sie beide sich dort wieder treffen.

– Oh ja!, hauchte der Tropfen, leuchtete versonnen noch tiefer und schien sich wieder fester an den Zweig zu klammern – obwohl wir ja wissen, dass er das nun wirklich nicht kann. Aber vielleicht gibt es ja doch noch etwas über dem höheren Gesetz, was die Eiche noch nicht weiß. Denn für eine Eiche ist sie ja noch sehr jung…

Nun hat die königliche Eiche, wie eigentlich alle herrschenden Persönlichkeiten, leider auch einen kleinen Zug zur Grausamkeit!

Das kommt vermutlich von der Einsamkeit und Selbstbezogenheit, in der man als Solitär-Baum die Jahrhunderte ohne Gleichartige neben sich verbringt.

So sprach die Eiche weiter zu dem Tropfen, der sich eben neue Hoffnung gemacht hatte, den Strahlenden doch wieder zu sehen:

– Allerdings – es gibt auch immer noch eine dritte Möglichkeit.

– So?, murmelte der Leuchtende, hellhörig geworden durch den anderen Ton in der Rede der Eiche.

– Ja, wenn Sie zu Boden gefallen sein werden, und Ihren Weg zur Quelle des Ehebaches suchen, kann es sein, dass Sie an eine der Wurzeln  geraten, mit denen ich mich da unten im Erdreich festhalte.

Sieh an, dachte der Leuchtende, da hat die Eiche also sogar zwei Reiche, eins hier oben und eins da unten. Sagte aber nichts, um sie nicht von ihrer Erzählung abzulenken.

– Und wenn das passiert, fuhr die Eiche fort, saugen meine Wurzeln Sie auf und senden Sie wieder hier hinauf – aber diesmal im Inneren meiner Äste und Zweige. Dann werden Sie dabei helfen, dass meine Krone hier oben immer prächtiger und schöner wird – zusammen mit den Sonnenstrahlen, die Sie gerade noch genießen.

– Oh, wisperte der Leuchtende, das würde mir natürlich eine große Ehre sein – ach! ich falle! – danke für die Warnung!

…und fiel hinab.

Gut, dass der Tropfen wieder vergessen hatte, was die Eiche über seinen vermeintlich freien Willen gesagt hatte.

Da war nicht eine Wurzel unter der Eiche, es waren Millionen!

Geschickt, wie er sich einbildete, entkam er allen, auch wenn er oft schon gefährlich nahe einen starken Sog verspürte – und als er schließlich  in der Quelle des Ehe-Baches angekommen war, war er doch schon ziemlich stolz auf sich!

Als der Leuchtende nach vielfach schlängelndem Laufe des Baches zwischen Weidenbäumen durch Wiesen von einer Seite des flachen Tales zur anderen wechselnd erst einmal Krautostheim hinter sich gelassen hatte, ging es schneller zu Tale.

Dort erblickte ihn das Kätzchen, das um diese Tageszeit (bei schönem Wetter) immer in der Dachrinne der Remise an der Modelsmühle sitzt. Es kann von dort eine Stelle des Baches sehen, an der der Ehe-Bach munter durch eine Biegung des Bachbettes auf die Mühle zu springt. Es sah das helle Aufblitzen, als der Leuchtende durch die Bach-Schnellen eilte und musste dann sehr lange nachdenken, ob es vielleicht die Schuppen eines Fischleins waren, das sich damit abmühte, den Ehe-Bach hinauf zu schwimmen, und das ein willkommenes zweites Frühstück abgegeben hätte.

Dann blieb es aber sitzen, weil es – ganz richtig – meinte, dass es doch kein Fischlein gewesen sei und schlief wohlig in der Morgensonne ein.

Sonst sah niemand den Leuchtenden auf seiner Reise…

Als der Ehe-Bach erst einmal Sugenheim hinter sich gelassen hatte, war das Gewässer kräftig angeschwollen, es floss nun zwischen Erlen dahin, aber die Reise war nicht mehr so flott. Noch weiter talab, bei dem Weiler Ehe, schleppte sich schließlich das Flüsschen träge und trübe dahin.

Wenn unser Reisender nicht nur ein Wassertropfen gewesen wäre, sondern jemand mit Kenntnissen über das menschliche Leben, so hätte er durchaus eine Parallele feststellen können zwischen diesem Bachlauf und jener Ehe, die kein Bach ist…

Aber unser Reisender ist nur ein Wassertropfen, und ein frisch verliebter dazu! Also versteht er davon nichts.

Auch wenn er nun hier mit Trillionen von anderen Tropfen gemeinsam das träge zwischen wallenden Wasserpflanzen dahin gleitende Flüsschen Ehe bereist, so zweifelte er doch keine Sekunde daran, dass er den Strahlenden zwischen allen den anderen wieder erkennen würde, sollte er dort sein, wo sich der Ehe-Bach mit der Aisch vereinigen wird.

Plötzlich ist der Augenblick gekommen. Dies merkt der Leuchtende daran, dass sie alle nach links fortgerissen werden! Und tatsächlich. im gleichen Moment eilt – ja rast sogar – der Strahlende auf  ihn zu! Nur kurze Zeit, allerdings, fließen sie nebeneinander her, dann entfernt sich der Strahlende schnell wieder in eine dunkle Nische des Flussbettes.

In der kurzen Zeit, in der der Strahlende ihn begleitete, hatte er folgendes eilig hervorgesprudelt:

– Ein Wirbel – ich sitze hier schon länger fest – immer im Kreis! Ein Fisch namens Lachs hat mir erzählt, dass wir alle zum Meer wandern. Dort treffen wir uns wieder.

– Warte dort auf mich!, rief er noch, als er sich wieder entfernte.

Dann waren sie wieder auseinander gerissen.

Die anfängliche Enttäuschung des Leuchtenden wurde bald durch die Gewissheit verdrängt, die die Worte des Strahlenden über ein Wiedersehen im Meer geschaffen hatten.

Er würde den Lachs genauer befragen, wenn er ihn treffen sollte.

…aber das, und die Frage, ob es Lachse in der Aisch gibt, ist eine andere Geschichte, wie ein Kollege von mir hier sagen würde, und was man besser wirklich nicht sagen kann!

Solltet ihr aber Zweifel haben, ob die ganze Geschichte denn stimmt, dann hört euch bitte einmal das Orchesterwerk „Die Moldau“ von Friedrich (Bedrich) Smetana genau an:

Bevor man dort hört, wie das Rinnsal zum Bach, der Bach zum Fluss und der Fluss zum Strom wird, der zum Meer strebt – ganz am Anfang des Musikstückes – hört ihr, wie im stillen, feucht-dampfenden Wald die Wassertropfen von den Bäumen auf den Blätter- oder Grasteppich darunter fallen und dann im Waldboden zur Quelle sickern… nur dass die Quelle in dieser Musik die Quelle der Moldau ist, in Böhmen, der Heimat von Smetana, dem heutigen Tschechien, und nicht die Quelle des Ehe-Baches.

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger