Die tägliche Kolumne – 24 – Die „Ideologie“ der Grünen

Viele Kommunikationsprozesse beginnen schleichend und lange Zeit fällt eventuell niemandem auf, dass da etwas schief läuft.

Aus meiner Sicht ist ein gutes Beispiel dafür der schlechte Ruf, den „Politiker“ pauschal gesehen bei der Bevölkerung genießen, die sie dennoch als Volksvertreter oder Amtsträger wählt. Umfragen bei den Bürgern über das Ansehen derjenigen, die sie regieren und verwalten, ergeben regelmäßig ein Ranking mit Ärzten an der Spitze und Bankern an der vorletzten, Politikern an der letzten Stelle und dahinter würde nur noch der Henker stehen, wenn es ihn bei uns noch gäbe. Aber wer weiß …

Das wird als generell akzeptiert so hingenommen, nicht einmal die Betroffenen regen sich darüber noch auf. Vielleicht steht auch „unfähig“ bald im Duden als typischstes Attribut zum Wort „Politiker“?

Dass das für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht gesund sein kann, dass diejenigen, die für das Ganze stellvertretend entscheiden und handeln fast unwidersprochen quasi als unfähiges Lumpenpack empfunden oder bezeichnet werden, wird nach kurzem Nachdenken jedem klar sein.

Ich halte es sogar für möglich, dass es die Antriebskraft hinter der Schaukel ist, auf der in regelmäßigen Abständen Rechtspopulisten hoch kommen – weil sie als „unbefleckte Mandatsempfänger“ nie irgendwas getan oder entschieden haben und damit einer breiten Masse irgendwann als Alternative erscheinen.

Das heißt also: schlampig gemachte und fahrlässig geduldete Sprachbilder können einen großen Einfluss auf das gesellschaftliche Klima haben.

Gerade entsteht da eine neue Erzählung – im Neu-Sprech würde das heißen: das „Narrativ“ geht „viral“.

Das ist die Annahme einer „Ideologie“ der Grünen. Von konservativen bayrischen Politikern nicht erfunden aber derzeit mit großer Freude gepflegt.

Ich stelle fest: ich bin kein „Grüner“ sondern nur ein rational denkender Humanist.

Die neue Erzählung zielt eindeutig darauf hin, die politischen Vorstellungen der „Grünen“ als eine Art Verschwörungstheorie zu brandmarken. Das wird gelingen, wenn die Erzählung der Ideologie immer und immer wieder wiederholt wir, sich dann auch immer weiter verbreitet – und im Wesentlichen unwiderspochen bleibt. Irgendwann „ist es dann so“ im gesellschafltichen Konsens.

Die grüne Idee ist aber keine Ideologie, sondern eine Erzählung, die aus Tatsachen sachliche Schlüsse zieht. So ungefähr das Gegenteil von einer Ideologie. Und so hat sie in der Bevölkerung schnell eine enorme Kraft entwickelt.

Wenn Medien und Bürger es zulassen, dass ein rationales Konzept in einer existenziell wichtigen Frage auf diesem Wege diskreditiert wird, wird der Konsens im Umgang mit der Klimakrise möglicherweise wieder zurück-pendeln in eine Einstellung: lasst uns unseren Wohlstand jetzt genießen – sollte es doch so schlimm kommen wie die da sagen, trifft es ja wahrscheinlich eher die Anderen – so what!

Besonders tragisch erscheint es mir, dass die Erzählung von der (sachlich fundierten) „grünen Ideologie“ von den politischen Kräften forciert wird, die sich auf ein eigene religiös fundierte Erzählung berufen, die wenig originäre Lösungsvorschläge bietet, außer der Möglichkeit über das Wasser zu gehen und auf Gott zu vertrauen – zweifelsfrei mit dem „C“ im Namen ihrer Bewegung notiert.

Im Namen unserer Kinder und Enkel rufe ich die Medien dieses Landes dazu auf: lassen Sie das nicht zu!

Herzlich

Der Brandenburger Tor

© Herbert Börger, 14.11.2023

Die tägliche Kolumne – 16 – Die Annahme des besten Falles …

… als Grundlage des Bundeshaushaltes wirkt nicht vertrauensbildend.

Wenn der Kanzler nach der Niederlage vor dem Verfassungsgericht sinngemäß verkündet:

„Wir sind anderer Meinung – aber wir werden uns netterweise dran halten.“

… dann müssen wir ihn daran erinnern, dass Deutschland sonst kein Rechtsstaat wäre.

Das eigentlich (das Vertrauen) Erschütternde ist aber eben die offensichtliche Tatsache, dass die Regierung keinen echten „Plan B“ in der Schublade liegen hatte! Man tritt wie ertappte Schüler vor die Öffentlichkeit und nicht wie eine professionell und entschlossen handelnde Regierung.

Die Regierung verläßt sich blind auf das Eintreten des besten Falles (siehe: Das fängt ja gut an – 313 – Annahme des besten Falles. Die Kölner sagen „Es ist doch noch immer gut gegangen!“ – an diesem Debakel sind sie aber ausnahmsweise nicht schuld …) und mir fällt leider in der Kürze auch nichts ein, was Gutes an der Schlechten Situation sein könnte … außer dass grundloser Optimismus zukünftig weniger beliebt wird – und nicht nur beim Haushalt. Die schwierige demografische Entwicklung und die Klimakrise rollen sichtbar seit 50-60 Jahren auf uns zu – und alle Regierungen scheinen auf ein Wunder zu hoffen.

Herr Scholz: als wir gestern abend zur Tram gingen dräute eine riesige Schwarze Wolkenwand in Richtung unserer geplanten Fahrt. Da hatten wir einen Regenschirm dabei und – wir haben ihn dann in diesem Falle doch nicht gebraucht …

Nun ja – das Verfassungsgericht beschimpft man wohl besser nicht, höchstens die Schuldenbremse … ein bisschen. Aber die hat man ja selbst in die Verfassung geschrieben. Da muss dann jetzt das Klima warten und die Wirtschaft selber mit der Transformation zurecht kommen.

Wenn dies eine Glosse wäre, würde ich jetzt schreiben: das Gehalt des Bundeskanzlers sollte deutlich erhöht werden, denn er macht jetzt den Job der Opposition und der Klimakleber gleich mit! … und die dunkelste Zeit des Jahres rollt auch gerade auf uns zu.

Auch kann ich leider nicht rufen: „Um Himmels Willen! Wen soll ich denn nun bei der Nächsten Wahl wählen?“ – weil ich nicht an Gott glaube. Vielleicht überlege ich mir das mit dem Glauben doch noch mal: es ist einfacher!

Nie verzagen, lieber Leser!

Herzlich

Der Brandenburger Tor

© Herbert Börger, 16.11.2023

 

Die tägliche Kolumne – 6 – Ratlos im Deutschen Theater

Ratlos im Deutschen Theater …

… an den Schauspielern kann es nicht gelegen haben, dass ich anschließend ratlos der nächsten U-Bahn zustrebte …

… denn die Schauspieler hatten gestern abend in der Kammer des DT die Regie-Einfälle in Spiel und Sprache großartig umgesetzt: fast beängstigend perfekt, wie die beiden marionettengleich ätherisch über die Bühne schwebten und dabei den Text hochsprachlich und gestochen in den Raum akzentuierten.

Zwei Elemente waren es, die diesen guten Eindruck wieder zunichte machten:

Erstens der Textinhalt, der sich in banalen Endloskreisen an den scheinbaren Lächerlichkeiten der Ur-Religions-Metaphern (daher der Froschgott!) und den dämlichen religiös-geistigen Taschenspielertricks des 19. Jahrhunders abarbeitet.

Liebe Frau Lausund: nach Ionesco kann man „die letzten Dinge“ so nicht mehr bringen (außer in einem Musical) ohne das Publikum massiv zu unterfordern.

Zweitens die Aufblähung eines 40-Minuten-Monologs mittels lächerlicher Endlos-Tanzeinlagen mit brachialer  (also bedeutungsschwanger weil laut?) Soundkollage. Während sich ärgerliche Langeweile immer mehr ausbreitet, verflüchtigen sich die letzten positiven Ansätze des Stücks.

Angesichts der sehr guten Leistungen aller Darsteller hätte sich ein Buh verboten, denn die Autorin war nicht da.

Noch ein Gedanke, der mir dann in der U-Bahn kam: den Informationen zum Stück entnahm ich, dass es eigentlich ein Monolog einer Person (m/w) sei. Das Sowohl-als-auch Mann und Frau des Regieeinfalls mag ja ganz witzig sein und die Bühne besser bespielen. Aber ist es dem ticketzahlenden Theatergänger wirklich egal, ob aus einer Person für 40 Minuten sechs Personen für 90 Minuten plus Soundkollage plus Tanz werden?… ohne erkennbaren Zusatznutzen? … und letztlich ist es ja auch meine eigene Zeit, die währenddessen verstreicht (in der ich auf ein wirklich geistreiches Stück gehofft hatte).

Es drängte sich mir ein fatales Bild auf: jemand hatte einen Strohhalm in den Froschgott gesteckt und ihn dann riesig aufgeblasen … schrecklich. Liebe Intendanz: wenn ich in ein Musical gehen wollte, würde ich in ein Musical gehen.

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06.11.2023, Herbert Börger

Die tägliche Kolumne – 3 – Hitparade der Schrecken

Die Krisen und Schrecken  auf der Welt und in unserem Land sind kaum noch zu zählen. Manche schauen dann über die Landesgrenze, um festzustellen, dass es beim Nachbarn vielleicht noch schlimmer ist … Sie stellen sicher schnell fest, dass „Whataboutism“ auch keine Lösung ist. In das „Ja, aber“ kann man sich auch nicht ewig flüchten.

Analysiert man die heutige Tageszeitung, stellt man fest, dass es überhaupt nur zwei positive Artikel gibt:

Ein Artikel preist eine gerade verstorbene Person ganzseitig und fast euphorisch – nur komisch, dass die dafür erst sterben musste, nachdem sie 30 Jahre fast vergessen wurde.

Der andere befasst sich mit Urs Fischer, der sich selbst nach 11 Niederlagen in Folge emotional großer Beliebtheit erfreut. Es gibt sie also noch, die integeren Persönlichkeiten, die nach großen Erfolgen nicht gleich in die Tonne getreten werden, wenn es mal nicht optimal läuft. Schön. Aber was wäre, wenn Urs Fischer doch schuld wäre am Niedergang seiner Mannschaft?

Sogar die positiv erscheinenden Nachrichten sind irgendwie subversiv …

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Herbert Börger, 03. November 2023

Die tägliche Kolumne – 2 – Chapeau, Herr Habeck

Meine Idee für diese tägliche Kurzkolumne war unter anderem getragen von der Hoffnung, tagespolitische Themen weitestgehend zu vermeiden. Bei tagespolitischem Bezug fehlt zwangsläufig ja die angemessene Tiefe für ein Thema. Das gelingt offenbar nicht immer:

Gestern Abend 01.11.2023 (heute Nacht) verfolgten wir eine weitere super-anstrengende Gesprächsrunde bei Markus Lanz, die sich um den Hamas-Israel-Konflikt drehte. Dies war die vielleicht gelungenste Runde bei Lanz überhaupt – jemals … (?)

Aber ich berichte hier nicht primär über die Sendung als solche, die erstaunlicherweise sogar ein greifbares „Fazit“ hinterließ: ALLE politisch verantwortlichen haben derzeit die Pflicht, mit Einsatz aller diplomatischen Mittel ein Ausweiten des Konfliktes zu verhindern! (Ja, da geistert ein früher Spruch von Scholl-Latour über die politischen Risiken der Nahostregion durch  den Raum!)

Aber darum geht es mir im Moment nicht.

Markus Lanz gab der jüdischen Autorin Deborah Feldmann (Nachfahrin einer Holocaust-Überlebenden) extrem viel Raum um ihre humanistisch-pazifistisch geprägte Sicht sehr empathisch darzustellen, die zusammenfassend sagt, dass derzeit die Juden „selektiv“ geschützt werden, den Palästinensern derselbe menschenrechtliche Schutz verweigert wird (unter anderem auch von der deutschen Regierung).

Vizekanzler Habek war aus Berlin zugeschaltet. Selten habe ich einen Politiker – Minister und Vizekanzler zumal – in einer so schwierigen Situation auf offener Bühne gesehen. Wie Habek unmittelbar darauf als Mensch und Amtsinhaber antwortete, war eine rhetorisch-inhaltliche Meisterleistung zwischen glaubwürdiger Empathie und entschlossener und nachvollziehbarer Einordnung der Situation für die deutsche Politik.

Habek ist mit einem derartigen Auftritt einer der respektabelsten und ministrabelsten Politiker des Landes derzeit – auch wenn ich die Vorgänge unter ihm in seinem eigentlichen Amt oft leider kritisieren muss.

Zurück zur Sache: in der Runde saß auch die Konfliktforscherin Florence Gaub, die empfahl, aus vergleichbaren weltpolitischen Konstellationen zu lernen, in denen eine rein militärische Lösung nie möglich war. Dies sei die Stunde der Diplomatie, um noch viel größeres Unheil zu verhüten.

Auch in diesem Sinne (nämlich der Stunde der Diplomatie) äußerte sich Habeck mahnend, dass er viel größere Gefahren am Horizont sehe als nur den lokalen Konflikt um Gaza. (Zitat:“Der Zug fährt derzeit in eine ganz andere Richtung!“)

Noch ein Nachsatz zum  Pazifismus-Verständnis von Frau Feldmann:

Sie bestritt, eine Pazifistin zu sein, und wollte dies plausibel dadurch machen, dass sie wisse, dass britische Soldaten angreifen und deutsche Soldaten töten mussten, um schließlich das deutsche Vernichtungslager Bergen-Belsen zu befreien, wodurch ihre Urgroßmutter vor der Ermordung im Rahmend er „Endlösung der Juden“ gerettet wurde. Sie konnte allerdings den Widerspruch dazu nicht auflösen, dass sie den israelischen Staat dazu auffordert, der Hamas quasi die andere Wange zu zeigen, d.h. auf den Gegenschlag zu verzichten.

Die Tragik besteht ganz offensichtlich darin, dass der gegenwärtig hoch-explosive Konflikt weder durch eine militärische Auslöschung der Hamas, noch durch einen einseitigen Waffenstillstand seitens Israel zu lösen sein wird.

Das ist immerhin eine respektable Erkenntnis aus 45 Minuten Talkshow … oder hatte jemand erwarte, dass hier die LÖSUNG des Konflikts gefunden würde?

P.S.: Etwas gewundert hat mich die Sprachbildung bei Frau Feldmann – nämlich es werden Israelis (Juden) „selektiv“ geschützt … Wird hier schon wieder jemand selektiert?

Copyright Der Brandenburger Tor

Herbert Börger, 2.11.2023

Die tägliche Kolumne -1 – Halloween

Gestern abend, 31.10.2023:

In den Spätnachrichten von rbb24 wird (gefühlt) 5 Minuten über den abendlichen Halloween-Auftrieb im Stadteil Berlin-Gatow berichtet. In Erinnerung ist mir geblieben, dass eine Frau sich beklagte, sie habe extra 5 Liter Kartoffelsuppe gekocht, die sie nun wegen des Regens nicht verteilen könne (?). Diese Information wird nun auf Ewig in den Archiven des Fernsehsenders rbb erhalten bleiben!

Bei einem der offenbar unvermeidlichen Anwohner-Interviews stellt sich schließlich heraus, dass dies heute der bedeutendste Feiertag des Jahres sei.

Nächster Beitrag: in gekonnt kurzgefassten 15-20 Sekunden wird darauf hingewiesen, dass sich heute abend auch Menschen in Kirchen trafen, um eines Martin Luther zu gedenken, der vor 506 Jahren möglicherweise (!) ein Plakat mit 95 Thesen an die Tür der Schloßkirche von Wittenberg anschlug.

Im Jahr 2033 wird sich ein Kind seine Hausaufgabe über die „Lutherische Reformation“ von einer KI im „Stile einer 12-jährigen Schülerin“ erstellen lassen:

Vor dem Jahr 1517 waren in Europa alle Menschen katholisch, deshalb hatten sie noch nicht gemerkt, wie schlimm es ist, katholisch zu sein. Aber Martin Luther verschloss auf dem Weg zur Halloween-Party seine Kirche in Wittenberge und hängte 95 Thesen an die Tür. Obwohl die Thesen in lateinischer Sprache geschrieben waren, fanden alle das gut und traten in seine neue Religion ein, die viel besser sein sollte. Mein Opa sagt immer, dass die Menschen das lesen konnten, weil sie eine viel längere Aufmerksamkeits-Spanne hatten! Ausserdem hat Martin Luther  11 Tage später noch eine Übersetzung in Deutsch gemacht, daher werden wir dann den Martins-Tag feiern.

Aber das ist heute auch schon alles vorbei, da jetzt alle nur noch im Internet sind, was leider auch nicht immer nett ist. Aber da kann man jetzt gar nicht mehr austreten.

Aphorismus des Tages:

Die KI ist eine unendlich große, träumende Maschine.

Sie saugt das auf, was wir  für Realität gehalten haben und schafft (vorläufig nur nach Anweisung) etwas, was wir als unsere Wünsche wieder erkennen … so wie wir eine Person oder Landschaft im Traum schon zu kennen glauben. Unsere Träume erscheinen uns ohnehin oft plausiebler als das „wirklich“ erlebte.

01.11.2023, Copyright: Der Brandenburger Tor – Herbert Börger

 

Das Böse im Menschen mit der Gentechnik eliminieren!?

(Dies ist eine Mischung aus Glosse und Essay – ich nenne das, seit ich es vor 10 Jahren erfand, „Glossay„. Den folgenden Text habe ich am 17.06.2011 geschrieben. Ich finde, er passt sehr gut zum heutigen Thema des Trans-Humanismus.

EIN DISKURS

(Der „Skeptiker“ in diesem folgenden Dialog bin ich…)

– Es ist jetzt nachgewiesen: man kann Embryonen so behandeln, dass das Böse im Menschen eliminiert wird!

– Wer hat das nachgewiesen?

– Ein gigantisches amerikanisches Forscherteam, finanziert von Bill Gates mit zig Milliarden.

– Glaub‘ ich nicht.

– Doch: Gates will, dass die Welt gut wird – wirklich!

– Ich zweifle nicht daran, dass der sowas will. Ich glaube nicht an das Ergebnis, dass die Welt gut wird dadurch, dass man „das Böse“ im Menschen eliminiert.

– Wieso? Ist doch eine Super-Konzept: warum immer die Folgen des Bösen in der Welt bekämpfen anstatt das Böse an der Wurzel zu tilgen?

– Das wollte Hitler auch. Und das ist nur ein Beispiel für die, die vermeintlich Gutes bewirken wollten und dadurch Böses taten.

– Hmpfff?

– Hitler hat sich damit „begnügt“, den Teil der Menschheit auszurotten der für ihn das Böse verkörperte. Dieser will nun gleich die ganze Menschheit ausrotten! Ich gebe zu: das ist eine wirklich konsequente Lösung!

– Wie kommst Du darauf?

– Die behandelten Embryonen sind keine „Menschen“ mehr.

– So’n Quatsch! Wenn man das Böse in den Menschen auslöscht sind das dann eben „gute Menschen“ – ist doch prima!

– Irrtum! Ich habe immer geahnt, dass man verblödet, wenn man zu reich wird! Nur das Gute und Böse zusammen ergeben – annähernd im Gleichgewicht gehalten – einen einigermaßen erträglichen Menschen.

– Das verstehe ich nicht…

– Diese „Gut-Menschen“. von denen da gefaselt wird, werden furchtbar sein, weil sie nicht mehr wissen, was gut und böse ist – alleine schon weil ihnen die Kategorie dafür fehlt.

– In Philosophie war ich nie so stark…

– Und offensichtlich auch nicht in Logik! „Gut“ alleine gibt es genauso wenig wie Licht oder Finsternis – beides ist jeweils für sich alleine eine Apokalypse!

– Tja… ?

– Aber mal eine konkrete Frage: wie wollen die das denn überhaupt machen? Wenn da quasi begonnen wird, eine „Gutmenschen-Sekte“ zu züchten: die sind doch ohne Hochspannungszaun drum herum den vielen „Gut/Böse-Normalos“ gar nicht gewachsen. Das ist wie wenn man eine Population von Menschen völlig keimfrei aufwachsen ließe: die würde der kleinste eindringende Keim sofort ausrotten!

– Tja, das soll ja auch keine Sekte werden – eher umgekehrt: die Vereinigten Staaten (also die an-sich-Guten!) haben einen Antrag auf Zwangs-Behandlung aller Embryonen ab 1.1.2022 bei der UNO gestellt.

– Erstaunlich – sonst war doch UNO immer eher des Teufels…  Und wenn sich jemand trotzdem weigert, seine Nachkommenschaft zu behandeln? – Sowas verletzt doch ein Menschenrecht.

– Nein das verletzt kein Menschenrecht: es wurde umgekehrt als Menschenrecht anerkannt, dass Embryonen das Recht haben behandelt zu werden. Also verletzt Du mit Deiner Weigerung das Menschenrecht deiner Nachkommen… Du wirst dann mit Deiner Nachkommenschaft in die unbewohnbaren Gebiete um alle GAU-Reaktoren umgesiedelt. Dort müßt ihr für das fehlende Bruttosozialprodukt schuften.

– Dann gehe ich eben da hin – lieber verstrahlt unter Menschen als unter Monstern.

– Naja, so toll sind die Perspektiven für uns noch konventionell gut-bösen  Alt-Menschen eigentlich auch nicht: solange bis die gesamte Menschheit bis Alter 70 Jahre auf den neuen Gutmenschen-Typen umgestellt ist: wir bekommen ein Grundeinkommen, müssen für das Bruttosozialprodukt arbeiten und werden in einer Art geschlossenen Anstalt unter Aufsicht gehalten.

– Da wäre es aber billiger, das jetzt mit dem gesamten Forscherteam und ihren Geldgebern zu machen, die wären in einer geschlossenen Anstalt unter Gleichgesinnten sicher sehr glücklich – Selbstversuch ist bei denen doch sowieso gerade in Mode.

© Copyright 2018, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Ein Top-Manager im Supermarkt

Ein Kurzroman

MB ist Vorstandsvorsitzender eines stattlichen mittelständischen Konzerns.

Für die, die mit dem Berufsbild des Vorstandsvorsitzenden nichts anzufangen wissen: es ist eine Position, die 10.000 anstreben, aber nur 250 erreichen können. Die außerordentliche Bedeutung, derer sich der Inhaber dieser Position gewiss sein kann, wird mit dem Verlust eines so genannten „normalen Lebens“ bezahlt, dafür gibt es Schmerzensgeld….

Die Samstagvormittags-Sitzung war kurzfristig vom Aufsichtsratsvorsitzenden abgesagt worden.

MB war sozusagen ohne festen Termin oder konkretes Vorhaben „zuhause gestrandet“. Dass irgendwo in ihm noch Reste des früheren „normalen“ Lebensgefühles schlummerten, sehen wir daran, dass er nicht sofort auf den nächsten freien Golfplatz flüchtete, sondern bei einem improvisierten Frühstück seiner besseren Hälfte vorschlug:

– Lass uns gemeinsam etwas unternehmen, wir haben ja immer viel zu wenig Zeit für einander!

Die teure Gattin war leicht verwirrt über den unerwarteten Ausbruch von Privatleben bei ihrem Mann, blickte ihm liebevoll ironisch in die Augen und erwiderte:

– Das ist lieb gemeint, Mausebär, du hast zwar nichts zu tun, aber heute Abend haben wir sechs Gäste, wie du sicher noch weißt, und da bin ich den ganzen Tag generalstabsmäßig ausgelastet.

Ursprünglich, nein – auch heute noch – hasste sie diese „Militarismen“, aber sie setzte sie heute gezielt ein, um ihren Mann zu beeindrucken, der nun leichthin einwarf:

– Was musst du denn tun? Warum machst du das alles selbst?

– Das Schicki-Micki-Zeugs kommt mir nicht über die Schwelle! Entweder koche ich selbst oder ich lade gar keine Gäste ein. Und was den Arbeitsaufwand betrifft: wenn Angestellte alles das, was ich tue, zu dem Zeitpunkt tun sollten, an dem es getan werden muss, brauchten wir sechs Dienstboten. Wir leben ja nicht mehr im Feudalismus. Das ist ganz ähnlich wie in deinem Job – wenn lauter normale nine-to-five-Angestellte eine Entscheidung treffen müssten, die du alleine in 15 Minuten schaffst, würde ein Stab von 30 Leuten drei Tage brauchen – und die wären sich dann wahrscheinlich immer noch nicht einig…

Wenige Manager in seiner Position kamen in den Genuss der Situation, dass ihre Partnerin sie nach 30 Jahren noch  überraschen konnten, da diese dann inzwischen längst durch weniger bodenständige aber dafür 20 Jahre jüngere Exemplare ausgetauscht worden waren.

Dass sie den vielleicht wesentlichsten Aspekt seiner beruflichen Funktion so treffend in einem Satz zusammenfassen konnte: es wirkte fast schon brutal, als ob jemand plötzlich ein jahrzehntelang sorgsam gehütetes Geheimnis enthüllt und sich die Maske herunter reißt.

Blitzartig schlüpfte die kluge Ehefrau aber wieder zurück in Ihre ihre angestammte Rolle, übersah geflissentlich seinen verwirrt-überraschten Gesichtsausdruck und sagte nur leichthin:

– Um drei kommt Elena und hilft mir beim Kochen. Jetzt muss ich erst einmal einkaufen fahren.

Da ging ein Leuchten über das Gesicht des Vorstandsvorsitzenden Mausebär:

– Aber das kann ich dir abnehmen, Hildchen! stellte er fest. Es klang nicht wie eine Frage oder ein Vorschlag – eher wie die ihm so geläufigen Anweisungen im Geschäftsumfeld.

Wie sie dieses „Hildchen“ hasste. Es passte überhaupt nicht zu ihrem Selbstverständnis. Aber um das „Hildchen“ zu verhindern, hätte sie sich vor 30 Jahren dagegen wehren müssen. Seit Jahrzehnten war sie bei Familie und Freunden eben das Hildchen, die kluge, starke Frau, die jeden Anschein der Überlegenheit vermied. Sogar der Aufsichtsratsvorsitzende Blaufelder hatte schon gesagt:

– Hildchen, Sie sind vielleicht der größte verborgene Schatz unseres Unternehmens! (Was auch immer damit gemeint haben mochte…) Das Hildchen klebte an ihr wie ein Markenzeichen.

Wenn sie nun noch länger diskutiert hätte, wäre ihr Zeitplan gefährlich ins Wanken geraten, also spielte sie mit:

– Gerne, Mausebär, du bist ein Schatz.  Wahrscheinlich brauchst du länger als ich und es wird sicher auch teurer, aber Zeit hast du ja heute und auf fünfzig Euro kommt es wirklich nicht an.

Sie wusste hinterher auch nicht mehr, warum sie diese Spitze einfließen ließ – das musste ihn verletzen, aber vielleicht, dachte sie, spornt es ihn ja auch an.

Der Herr über Milliarden hätte Probleme mit dem 300-Euro-Einkauf des nicht so ganz alltäglichen Bedarfes…? Natürlich würde er die bekommen – wann war er überhaupt zum letzten Mal in einem Supermarkt gewesen? Noch zu DM-Zeiten? Aber sie wischte bewusst alle Bedenken hinweg, denn sonst würde er hier noch länger herumsitzen und sie von der Arbeit abhalten. Die gewonnene Zeit würde sie in eine besonders schöne Präsentation der Mahlzeit für die wichtigen Geschäftsfreunde investieren.

– Hier ist der Zettel. Ich gebe dir 500 Euro mit – du wirst wohl höchstens 350 brauchen.

Entrüstet schob er das Geld zurück. Das fehlte noch: wie ein Schulbub, der von Mutti zum Einkaufen geschickt wird.

– Das zahle ich natürlich selbst!

– Hast du Bargeld dabei?… Natürlich nicht. … Mit deinen Kreditkarten kannst du im Supermarkt nicht zahlen, und die Geheimnummer deiner privaten EC-Karte weißt du wohl nicht auswendig!

– Nein, da rufe ich immer Frau Geier an.

– Jetzt nimm das Geld und fahre los, sonst wird es zu spät für den Fisch!

Mausebär machte sich auf den Weg: nicht ohne vorherige Einweisung durch Hildchen in den umfänglichen Einkaufszettel und ihre eindringliche Ermahnung, als-erstes-sofort-zur-Fischtheke zu eilen, da dort gestern wegen begrenzter Liefermengen keine festen telefonischen Vorbestellungen mehr angenommen worden waren.

Zwar hatte ihm Hildchen empfohlen, ihren kleinen Wagen für diese Tour zu benutzen, doch er hatte keine Ahnung, wie man zum Ruhr-Einkaufszentrum kommt, so dass er seinen großen Dienstwagen alleine wegen des Navigationssystems benutzen musste.

Hildchen hasste „Navis“ – und zwar hauptsächlich wegen der Frauenstimme, die die Routenanweisung gab. Sie hatte damals gesagt, als er sein erstes Navi hatte:

– Die passt wirklich gut zu eurer Generation: sanft, duldsam und immer bereit!

Später einmal, als sie am Tegernsee zu einem Restaurant neben der eingegebenen Route abbogen und die Stimme zum dritten Mal sanft gemahnt hatte:

– Wenn möglich, bitte wenden…

sagte Hildchen:

– Hacke ihr doch mal den Fuß ab, würde mich interessieren, was sie dann sagt!

Das hatte ihn regelrecht geschockt.

Nun gut, das war damals nach der Operation, von der sich Hildchen so langsam erholt hatte. Da war sie oft gereizt erschienen. Er hatte sie ihr ganzes gemeinsames Leben lang immer als grenzenlos stark und belastbar  erlebt. Glücklicherweise war ihre Stärke dann auch im vollen Umfang wieder zurück gekommen. Das war der Verdienst einer medizinischen Koryphäe, zu der Hildchen fast ein Jahr lang alle 14 Tage nach München zur Behandlung gefahren war. Eine Empfehlung ihrer Freundin Emma. Danach war sie wieder ganz das „Alte Hildchen“ geworden, um die alle ihn  so beneideten.

Es war schon richtig: er selbst mochte diese Frauenstimme seines Navis sehr gerne. Natürlich hätte er auf der 20. Fahrt zum Achensee auch ohne Navi hingefunden, aber es hätte ja eine Stauwarnung geben können….

Oft schaltete er das Navi sogar ein, wenn er aus der Tiefgarage des Büroturmes, der sein „Reich“ war, nach Hause fuhr – natürlich nur, wenn niemand dabei war…

Im Job stand er ständig unter Höchstspannung, was dadurch zu rechtfertigen war, dass am Ende etwas dabei herauskam! Daneben sehnte er sich im privaten Bereich nach grenzenloser Harmonie und Nachsicht…

Auch wenn man sich zum fünften Mal entgegen der Anweisung verfahren hatte, sagte die Stimme immer noch sanft und geduldig: „Wenn möglich, bitte wenden“ und nicht etwa: „kannst du denn gar nichts richtig machen?“.

Was war falsch daran?

Was an der Benutzung des S 500 falsch war, merkte er sofort, als er auf den riesigen aber proppen-vollen Parkplatz des Einkaufszentrums einbog: die Wagenklasse war dort nicht vorgesehen!

Warum hatte er Hildchen eigentlich nie gesagt, dass man die Stimme im Navi auch abschalten konnte?

Neidvoll sah er die Frauen in ihren Kleinwagen in die freiwerdenden Plätze hinein kurven. Sogar in den Durchfahrtgassen war er ein Verkehrshindernis. Als dann so eine sture Ziege einfach stehen blieb, musste er mit seinem Schlachtschiff auch noch zurücksetzen, wobei er um ein Haar einen KA zerquetscht hätte. Die ausnehmend attraktive Fahrerin funkelte ihn an wie ein aufgeklapptes Rasiermesser. Längst war ihm der Schweiß ausgebrochen.

Fluchtartig verließ er den Parkplatz, nicht ohne sich an der Ausfahrtbegrenzung eine hörbar hässliche Schramme in die rechte Tür zu ziehen.

Er fand in der Nachbarschaft den leeren Parkplatz einer Autoreparaturwerkstatt. Dort stellte er den Wagen eiligst ab – konnte sich aber nicht des Gedankens erwehren: Hoffentlich ist es nicht die Niederlassung eines einschlägigen osteuropäischen „Abschlepp-Dienstes“. Dann hätte ich Ihnen das Sahnestück ja auf dem Tablett serviert.

Fußwege gab es hier nicht. Er musste sich über die Fahrstraße in großem Bogen dem Einkaufszentrum nähern. Schließlich durchquerte er eine wild wuchernde Wiese zwischen Straße und Parkplatz. Das lange Gras war nass.

Sein Handy meldete sich jetzt. Hildchens besorgte Stimme: „Hast du den Fisch schon?“ „Natürlich – mach` Dir keine Sorgen! Ich komme prima klar!“ log er.

„Du bist wirklich ein Schatz. Jetzt kannst Du Dir Zeit lassen. Trink mal einen Kaffee.“

Er verstand sich nicht mehr: Er fühlte sich mies nach dieser Notlüge, die er ohne Not gebraucht hatte. Offensichtlich hatten ihm diese kleinen Missgeschicke  in einer einfachen Situation des realen Lebens sein gewohntes Selbstbewusstsein geraubt. Eine Konstellation ungewohnten Kontrollverlustes, mit der er nicht spontan umzugehen wusste. Er verhielt sich wie ein beim Mogeln ertappter Schüler.

Bei dem Telefonat mit Hildchen hatte er nicht auf den Boden geachtet und war mit seinen 400-Euro-Schuhen mitten durch eine schlammige Pfütze gestapft.

Jetzt stand er am Rande des großen Parkplatzes, atmete kurz durch und blickte über hunderte geparkte Autos zum Eingang des Einkaufszentrums hinüber.

Merkwürdigerweise erinnerte er sich in dieser Situation an den Anfang seiner Karriere, als er am Morgen seines ersten Arbeitstages unten vor der Konzernzentrale stand und zur Vorstandsetage im obersten Stockwerk hinaufblickte. Das war sein Ziel von Anfang an – und das hatte er erreicht, schneller als er damals gedacht hatte – und das, obwohl er gerade nicht immer ausschließlich seine eigene Karriere im Sinn hatte.

Für ihn war es immer sinnlos gewesen, sich für das Unternehmen zu engagieren, ohne dass die Mitarbeiter insgesamt davon profitierten. Es fiel ihm leicht, sich in deren Situation zu versetzen. Schließlich war er eigentlich auch nur ein Mitarbeiter – abhängig von den Wächtern des Kapitals.

Das war die Voraussetzung dafür, dass ihm nun über Jahrzehnte ein legendär gutes Verhältnis mit der Arbeitnehmerseite nachgesagt wurde – zu recht, wie er wusste. Das ist eine Position, die es manchmal enorm erleichterte sehr schwierige Entscheidungen durchzusetzen –  ein Vorteil, den die Kapitaleigner in seiner Person außerordentlich zu schätzen wussten.

Er ging nichts an, was nur durch verlustreiche interne Schlachten zu erreichen war. Danach musste man unter erheblichem Zeitverlust die internen Wunden kurieren – was oft mehr Kraft kostete als die ehrgeizigsten Ziele rechtfertigen konnten.

Er liebte die Schlacht im Markt – und die gewann er meistens, weil seine Mannschaft wie eine Mauer hinter ihm stand. Daher fühlte er sich „unverwundbar“.

Auch wenn seine Ansichten zeitweise denen der Kapitaleigner entgegenstanden, so erhielt er letztlich doch immer die Unterstützung des Aufsichtsrates – bisher jedenfalls.

Als der „Unverwundbare“ schließlich im Eingangsbereich des Einkaufszentrums stand gab er folgendes Bild ab:

Die Maß-Schuhe waren von  Schlamm verkrustet, Socken und Hosenaufschlag feucht und bespritzt. Er war verschwitzt und einzelne Haarsträhnen standen im vom Kopf ab. Die Brille beschlug so stark, dass er sie eine Zeit lang abnehmen musste.

Und er stand unter Zeitdruck – ohne die geringste Vorstellung, wo die Fischtheke im Supermarkt zu finden sein würde.

Er verstand nichts vom Einzelhandel, aber er ging davon aus dass so ein Großmarkt nicht von einem völligen Idioten geleitet wurde. Daher wurde ihm sofort klar, dass die völlige Unübersichtlichkeit, die ein zielgerichtetes Einkaufen unmöglich machte, einen großen Vorteil für den Verkäufer darstellen musste.

Er griff sich einen herum stehenden Wagen. Mit etwas Glück schaffte er es auch, sich und den Wagen gleichzeitig durch die Einlassbarriere zu schleusen.

Als er jetzt den Schritt beschleunigte, merkte er, dass mit dem Einkaufswagen etwas nicht stimmte. Eines der Räder schlug wild hin und her, was es sehr schwierig und kraftaufwändig machte, das Gefährt geradeaus zu dirigieren.

Die hoch gewachsene, attraktive Mittdreißigerin, die ihm im Hauptgang begegnete war dieselbe, deren KA er vorhin beinahe zerquetscht hätte. Sie erkannte aber nicht den distinguierten Herrn am Steuer eines S 500 sondern bemerkte einen offensichtlich alkoholisierten Penner, der den Einkaufswagen, an den er sich klammerte, kaum geradeaus führen konnte; verdreckte Schuhe und wirres Haar passten ins Bild, nicht aber der perfekt sitzende, edle Kaschmirmantel, den er vielleicht von einem wohlhabenden Bruder übernommen hatte, der ihm wohl auch den Geldschein zugesteckt hatte, den er jetzt hier wahrscheinlich in Alkoholika umsetzte…

Der Vorstandsvorsitzende hatte aber gar keinen Blick für die leicht ironisch-neugierige Mine der Schönen, denn er hatte soeben hinten an der Rückwand des Marktes die Frische-Theken entdeckt.

Mit wild hin und her schlagendem Wagenrad  steuerte er dort die Fischtheke an, wo er zunächst in der dritten Reihe anstand.

Links war am Rand der Theke ein großes Schild „Vorbestellungen“ aufgehängt.

Dort sprachen laufend Kundinnen vor und erhielten sofort ihre vorbestellte Ware aus dem Kühlraum ausgehändigt.

MB orientierte sich in der Auslage der Fischtheke und entdeckte zu seiner Erleichterung eine große Platte hoch aufgetürmt mit Seezungenfilets. Vor seinem inneren Auge erschienen Hildchens delikate Seezungenröllchen – er konnte sie sogar riechen – und er lächelte in sich hinein: sein Schuljungenfehler würde sich in Luft auflösen!

Zwar erlitten die begehrten Filets in den nächsten 10 Minuten seines Wartens einen dramatischen Schwund, doch nun war er als nächster dran und es lag immer noch eine stattliche Anzahl auf der Platte.

In dem Augenblick erhob sich am Abholschalter ein lautes Gezeter. Dort stand eine Frau und beschimpfte den Verkäufer, weil ihre Vorbestellung nicht notiert worden sei. Der Verkäufer zuckte gelassen die Schultern, fragte nach, und 10 Sekunden später waren die letzten Seezungenfilets verschwunden.

Die Frau hinter ihm in der Schlange sagte: „Immer wieder derselbe alte Trick. Die stand eben noch hinter mir! Aber ich bringe das einfach nicht fertig. Da sieht man wieder die Nachteile einer guten Erziehung. Glücklicherweise gibt es aber auch viele Vorteile.“

MB war gerade nicht nach einer geistreichen Unterhaltung über die Vor- und Nachteile einer guten Kinderstube zu Mute. Er stand unter Schock, orderte schnell die anderen Kostbarkeiten auf dem Zettel und hatte sich dann sogleich vom Fischstand abgewendet. Hier machte sich nun seine nicht vorhandene Erfahrung in vielen Dingen des einfachen täglichen Lebens bemerkbar: er hatte noch nicht einmal nachgefragt. Hätte er sich nach drei Schritten noch einmal umgewendet, hätte er gesehen, dass die nächste hoch getürmte Platte mit Seezungenfilets nach vorne getragen wurde….

Diese banale Niederlage „in freier Wildbahn des Lebens“ hatte ihm einen Schweißausbruch beschert. Er zwang sich zur Ruhe: es würde ja wohl im Umkreis von 25 Kilometern noch ein anderes kompetentes Fischgeschäft geben.

Da er bisher nicht gewillt war, derartige Möglichkeiten des Internet auf dem Handy zu erlernen, blieb da nur noch Frau Geier als Anlaufstelle. Seine Sekretärin würde jetzt sicher auch die Gelegenheit zu Einkäufen mit Ihrem Mann nutzen, aber ihr Handy war für ihn immer erreichbar, falls er dringend eine Information brauchte.

So war es auch: Frau Geier meldete sich sofort und sagte auf sein Anliegen:

„Das würde ich im Ruhr-Zentrum holen.“

„Dort bin ich gerade und Seezunge ist ausverkauft!“

„Dann müssen Sie 20-30 km fahren. Die Markthalle Im Kaufhof in Essen hat das immer – und die Nordsee ist gleich um die Ecke.“

Unter normalen Umständen hätte er sich den Scherz hier sicher nicht entgehen lassen, ob 250 km Entfernung zur Nordsee für sie „um die Ecke“ sei.

Er wollte sich gerade bedanken, da hörte er am anderen Ende der Verbindung das gedämpfte Läuten eines Telefonapparates.

Er war wie vom Donner gerührt. Alles um ihn herum versank hinter der einen klaren Vision: Frau Geier stand im Sekretariat der Vorstandsetage! Nach über 20 Jahren mit zahllosen Anrufen von Reisen, war das Klingeln seines eigenen Apparates, das gedämpft durch die offene Tür zum Sekretariat drang, absolut unverkennbar für ihn. Jetzt fiel ihm auch die ungewöhnliche Befangenheit in Frau Geiers Stimme auf.

Wie in Trance klappte er das Mobiltelefon zu und starrte vor sich hin.

Es gab dort eine Sitzung, von der er nichts wusste – nein: aus der er bewusst ausgeladen worden war.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dass er die ganze Situation erfasste.

In den unmittelbar darauf folgenden Sekundenbruchteilen fiel der Schirm der „Unverwundbarkeit“ von ihm ab. er meinte sogar das Aufschlagen der Trümmer auf den Boden zu hören. In Wirklichkeit war dies zwar nur das laute Klappern zwischen den Drahtkörben der Einkaufswagen, als eine Familie versuchte sich in dem Gang an ihm vorbei zu drängen.

Er hörte auch nicht die Bitte der Frau, ob er seinen Wagen zur Seite schieben könne, weil in seinem Kopf gerade eine straff gespannte Saite mit lautem, hartem Geräusch zerriss.

Das ganze Energiezentrum in seinem Inneren, das einen ganzen Konzern über Jahre erfolgreich vorangetrieben hatte, war implodiert.

MB ließ den Einkaufswagen stehen und verließ den Markt, ohne irgend etwas um sich herum wahrzunehmen.

Er sah nur die Szenen vor sich, die gerade im Konferenzraum der Konzernzentrale in seiner Abwesenheit abliefen:

der Aufsichtsrat war dabei, jenen 43-jährigen Schnösel als seinen Nachfolger zu installieren, den Blaufelder ihm so warm als Nachfolger von Finanzvorstand Schneider und seinen eigenen Stellvertreter ans Herz gelegt hatte. MB hatte das Ansinnen abgelehnt. Mit diesem Mann gab es für ihn keine Basis der Zusammenarbeit – er kannte die Branche viel zu wenig, was der auch noch als „Vorteil“ verkaufte.

Jetzt waren sie dabei, eine Erklärung vorzubereiten, dass MB sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Vorstandsvorsitz zurückziehe und welche phantastischen Verdienste das Unternehmen dem Scheidenden zu verdanken hatte.

Er ging wie in Trance über den Parkplatz, dann die Treppenstufen hinab, die zur Straße führten, die dort am Steilabhang des Tales den Brückenkopf der Stahlbrücke bildete, die sich über das 120 Meter tiefe, grüne Tal spannte.

Jetzt sah er es wieder genau vor sich: nach seiner Ablehnung von Blaufelders Vorschlag hatte sich dessen Mine zu einer eisigen Maske verschlossen und er hatte das Thema danach nicht mehr angesprochen.

Im Bewusstsein seiner „Unverwundbarkeit“ hatte der Vorstandsvorsitzende Blaufelders Gesichtsausdruck keine Bedeutung beigemessen.

Ein schwerer Irrtum!

Er überquerte die Straße und ging am östlichen Brückengeländer entlang 150 Meter weit auf die Bücke.

Er stützte sich auf das Geländer, das er mit beiden Händen umklammerte und blickte in den über 100 Meter tiefen Abgrund.

Unten nahm er eine Straße und einzelne Häuser neben dem Fluss wie Spielzeug wahr. Am Straßenrand stand da unten ein Rettungswagen mit Blaulicht. Blaufelder hatte mal wieder an alles gedacht…

MB zog den Mantel völlig ruhig aus und legte ihn sorgsam zusammengefaltet auf das Brückengeländer. Er lächelte, als ihm diese sinnlose Geste bewusst wurde.

Dann ließ er sich über das Geländer in die Tiefe gleiten.

Während er fiel, wunderte er sich, dass sein Leben nicht wie ein Film an vor ihm vorbeihuschte – und als er unten aufschlug, erwachte er nicht schweißgebadet in seinem Bett.

Bereits in den Sonntagszeitungen meldet das Unternehmen den überraschenden und bedauerlichen Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden. Man vermutet eine schwere Erkrankung als Grund. Diese Vermutung werde durch den unmittelbar darauf folgenden Freitod des Mannes gestützt. Fremdverschulden an dem Brückensturz sei auszuschließen. Obwohl ein Rettungswagen nur zwei Minuten später zur Stelle gewesen sei, sei natürlich aufgrund der Höhe des Sturzes nur noch der Tod festzustellen gewesen.

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor – Herbert Börger

Nackter Wahnsinn …

… Potsdam – nicht Dein Ernst!?

Ich schlenderte gestern mit meiner Frau aus der Altstadt Potsdams in Richtung der Langen Brücke. Da erblickten wir direkt hinter der Straßenbahnhaltestelle neben der Kollonade dieses Ensemble, das offensichtlich dem rekonstruierten Stadtschloss bzw. Landtag neu hinzugefügt wurde:

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Ich war regelrecht geschockt! Für einen Abiturienten-Scherz erscheint es wesentlich zu aufwändig.

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Das rekonstruierte Knobelsdorff’sche Residenzschloss ist ein sehr schöner, edler und würdiger Baukörper für einen würdigen Zweck genutzt – und die Potsdamer Bürger wollten halt mehrheitlich lieber die historische Rückschau in ihrer Stadt anstatt die Chance zu nutzen, ein Zeichen zeitgenössischer Achitektur zu setzen.

Aber nun? Rokokko-Kitsch aus feudalistischer Zeit hinter der Straßenbahnhaltestelle … ? Selten ist das Gefühl des Fremdschämens so heftig in mir aufgestiegen.

Hier das Ensemble noch einmal unter Einbezug des Umfeldes (nein – nichts installiert!) – schade: kein Putto auf dem e-Roller …

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Hier werden also künftig Menschen auf dem Weg von ihrem Erst- zum Zweit-Job vorbei hetzen. Welche Botschaft sendet dieses „Ding“ jenen Menschen? Vielleicht: wenn Du Dich ordentlich anstrengst und Deine erste Milliarde zusammengekratzt hast, kannst Du Dich auch mit ein paar Millionen Spendengeld in Deiner Stadt verewigen – den rekonstruktions-wütigen Potsdamer Vereinen wird da immer noch etwas einfallen …! Irgendwas muss mit dem vielen Geld ja geschehen.

Sollte aber jemand eine Information besitzen, dass das Putten-Septet doch irgend einen (klugen) Ironiebezug hat, wäre ich dankbar für Ihren Kommentar … auch gerne per Email an den admin dieser Seite.

Der Brandenburger Tor

Berlin, April 2023

P.S.: Heute, am 30.08.23 war ich anläßlich eines Barberini-Besuchers wieder vor Ort. Insgeheim hatte ich gehofft, dass es vielleicht doch nur eine temporäre Installation für Film-Dreharbeiten gewesen sein könnte … aber es ist immer noch da!

Auch wiederholte visuelle Untersuchung ergibt übrigens keinen Zusammenhang der „Amouretten-Treppe“ zu einer Tür in der Außenwand des Landtags-Schlosses. Also vielleicht doch ein Kunstwerk mit philosophisch-gegenwartskritischem Bezug … oder gar eine kafkaeske Parabel?

P.P.S.: Nun habe ich mich doch endlich bequemt, zu recherchieren, was es mit dem „Lusttreppchen“ auf sich hat … Ergebnis:

https://www.spsg.de/index.php?id=12080

Hm, ich muss sagen:

Die Stellen und Autoritäten, die hier aktiv verantwortlich sind, haben den Kontakt zu den Realitäten unseres Landes völlig verloren und betreibt eine absurde Rekonstruktions-Verdisneylandisierung von Potsdam.

Der starke Vielfraß und das Wunderkraut – (k)ein Märchen

Es war einmal (und es war vielleicht auch nicht – wie in türkischen Märchen hinzugesetzt werden soll, wie ich hörte …) ein unglaublich starker Mann. Er saß auf einem schönen, traditionsreichen und fruchtbaren Land. Da er so stark war, die meisten Menschen aber in Ruhe leben wollen, hatte er die Macht im Lande an sich gezogen und man hatte teils aus Bequemlichkeit, teil aus Angst dies zugelassen.

Der unglaublich starke Mann brauchte aber auch unglaublich viel Fressen, um seine Macht, die er immer mehr auf seine einzige Person zugeschnitten hatte zu befriedigen.

Nachdem er schließlich das ganz Land leergefressen hatte und schon fast keiner mehr wagte, seinen Anteil am Ertrag des Landes einzufordern richtete er seinen Augenmerk auf die Grenzen des Landes und sah alle die guten Früchte, die die Menschen dort zur Verfügung hatten.

„Ihr müsst mir davon abgeben!“ rief er denen zu, „denn ich bin unglaublich stark und ich habe nichts, während Ihr im Luxus lebt. Das ist ungerecht!“ Erst drohte er nur – und dann fing er an, sich zu nehmen, was er von den Nachbarn wollte. Erst kleine Portionen, dann immer größere.

Er fraß und fraß.

Die Nachbarn fingen an, an den Grenzen des Vielfraßes stachelige und übel riechende Gewächse anzupflanzen. Aber es half nichts: der unglaublich starke Mann hatte längst aufgehört, irgendetwas zu schmecken oder zu fühlen – weder stachelig noch bitter – nichts schien ihm etwas anhaben zu können. Wenn er dann die Macht übernommen hatte, riss er alles an sich, denn er war inzwischen der Meinung, dass es für die Menschen da draußen historisch viel großartiger sei, unter seiner Macht zu verhungern, als einfach so dahin zu vegetieren, ohne seiner Größe zu dienen.

In seinem Fressens-Rausch hatte der unglaublich starke Mann völlig vergessen an seine liebe Großmutter zu denken. Großmütterchen hatte ihn als Kind gehätschelt und behütet – nun wurde sie von ihm nicht mehr beachtet. Sie war aber jetzt von großer Sorgen gebeugt, darüber, was aus ihrem Enkel geworden war.

Nun gut, sagte sie zu sich, wir haben bei Vladis Erziehung versagt: wir müssen versuchen das wieder gut zu machen. Und so machte sie sich auf den Weg, um ein Kräutlein zu suchen, dass ihren Enkel heilen könnte. Sie zog durch das Land, sie sprach mit allen Weisen des Volkes und bekam dabei so manchen Rat, pflückte dann ein Kraut, das sie dann an seine Leibspeise, das „Oligarchen-Schutzgeld“ , mischte. Aber nichts wirkte, nichts bewegte den Vielfraß zu einer Umkehr.

Eines Tages traf sie eine uralte Frau, die ihr Ur-Ur-Enkelkind auf dem Schoß hätschelte. Die Greisin gab ihr lächelnd folgenden Rat: „Von weisen Männern, die selbst schon ihr Leben lang unter der Macht des unglaublich starken Mannes leben, kannst Du keine Hilfe erwarten. Suche das „Weise Kind“ – es kennt die Lösung. Durchwandere die Dörfer – es könnte in jedem einzelnen sein.“

So durchwanderte die Großmutter des unglaublich starken Mannes viele Dörfer in der Mitte des Landes und beobachtete dort das Leben und achtete besonders auf die Kinder.

Eines Tages fand sie vor einem Dorf ein Kind von etwa 8 Jahren in einem Feld kauern, das sanft und zart ein zierliches Grünpflänzchen zu hegen schien. Es strich über die Blätter des Krautes und zog immer wieder leicht aber über eine längere Zeit daran. Ab und zu erhob das Kind den Blick und lächelte die alte Frau an, die geduldig zu Warten beschlossen hatte, um zu erleben, was hier geschah. Irgendwie hatte sie das Gefühl, hier am Ziel zu sein.

Das Pflänzchen bildete zusammen mit tausenden gleichen Kräutern eine schimmernde Wiese, die sich über den ganzen Talgrund des Baches ausbreitete. Das Kind schenkte seine ganze Aufmerksamkeit aber ausschließlich einer einzigen kleinen Pflanze am Rande der Wiese.

Nachdem die Großmutter dem Kind eine Stunde zugeschaut hatte, fragte sie das Kind: „Wie nennst Du das Kraut – und was tust Du damit: wirst Du es pflücken?“

„Es heißt Wunderkraut“, sagt das Kind, „ja, ich werde es pflücken, aber das dauert noch einige Zeit. Es ist mühselig, aber es erhält uns als Gemeinschaft, sagt meine Urgroßmutter. “

„Was machst Du dann mit dem Kraut?“

„Ich bringe es meiner Urgroßmutter, die mir beigebracht hat, das Kraut zu ernten. Die wird es an unser Abendessen tun, damit es uns stark und gesund erhält.“

„Musst Du jeden Tag so lange Zeit damit verbringen, ein einziges Kraut zu pflücken?“

Inzwischen hatte sich ein alter Mann genähert und setzte sich ein Stück weiter ebenfalls an den Wiesenrand und begann ein Kraut zu hegen.

„Nein, das tut jeden Tag am Nachmittag ein anderes Familienmitglied. Man kann sich eigentlich auch nicht dabei unterhalten, denn ich muss, während ich immer wieder sanft an der Pflanze ziehe, meine Gedanken hinab senden zu den Wurzeln – sie sind zehnmal länger als die Pflanze selbst. Dabei erfahre ich ihre Gesetze und kann sie schließlich mit sanfter Kraft heraus ziehen. Wenn Du hier bleibst, kannst Du erleben, was dann passiert.“

Dann schwieg das Kind wieder und widmete sich – genau wie der alte Mann in der Nähe – nur noch der Pflanze.

Die Großmutter saß da und verlor vollständig das Gefühl für die Zeit, obwohl inzwischen etwa zehn weitere Menschen sich am Wiesenrand dazu gesellt hatten. Deshalb konnte sie hinterher auch nicht genau sagen, wie lange es dauerte, bis sich das Kind aufrichtete und glücklich strahlend das Pflänzchen mit dem langen, unversehrten Wurzelgeflecht daran in die Höhe hielt. Es lief ein freundliches Raunen durch die Menschengruppe – auch mit einem „Gut gemacht, Yuri“ dazwischen.

Das Erstaunlichste aber war, dass in dem Moment, in dem das Kind die Pflanze mit der Wurzel heraus gezogen hatte, ein wundervoller Duft die Luft erfüllte, der bewirkte, dass unmittelbar ein tiefes Glücksgefühl die Großmutter durchströmte. Das überzeugte sie davon, dass hier etwas ganz Besonderes geschah, denn eigentlich war sie durch die Sorge um ihren Enkel schon ganz grämlich geworden.

Das Kind lief zu seiner Urgoßmutter und die Großmutter des unglaublich starken Mannes folgte ihm und lernte nun die Menschen im Dorf kennen, die sie mit freundlicher Gastlichkeit empfingen. Leider musste sie erfahren, dass man das „Wunderkraut“ nicht haltbar machen konnte, damit sie es mitnehmen konnte. Sie musste sich damit begnügen, nun diese Geschichte zu kennen und mit sich führen zu können.

Leider ist es ja gar nicht so verwunderlich, dass „Großmutter Vielfraß“ in gleichem Grade dumm war, wie ihr Enkel stark  zu sein glaubte. Man muss ihr wohl aber zugute halten, dass sie verständlicherweise daran glaubte, dass auch in ihrem Enkel tief drinnen etwas Gutes schlummerte, von dem sie hoffte, dass es durch das Wunderkraut zum Vorschein gebracht werden könnte.

Also ging sie zu ihrem Enkel und berichtete ihm von ihrem Fund und schlug ihm vor, von dem Kraut zu kosten, da es anscheinend die Menschen weise und friedlich mache.

Der unglaublich starke Mann ließ sofort seine Truppen in das Nachbarland einmarschieren und verkündete: „Ihr habt das unglaubliche Glück, dass ich die Last auf mich nehme, auch Euch zu beschützen und für Euch zu sorgen. Zum Ausgleich müsst Ihr mir nur Euren Besitz aushändigen.“ Daraufhin verfiel das Land in großes Elend und eine Hungersnot brach aus, da der Vielfraß ja alles Essbare für sich brauchte.

Aus dem Gebiet des Wunderkrautes ließ er alle Menschen evakuieren, die Region streng bewachen und seine Truppen mussten einen geschützten Korridor bilden, durch den er schließlich zum Wunderkraut gelang. Denn obwohl er glaubte, der stärkste und natürlich weiseste Mann der Welt zu sein – denn er glaubte selbstverständlich selbst alles, was er der Welt ständig über sich und seine Größe bekannt gab – hatte er mittlerweile panische Angst vor dem kleinsten Mäuslein, von dem er annahm, dass es ein Instrument seiner Feinde sei, die ihn vernichten wollten.

Von der Erzählung seiner wunderlichen alten Großmutter glaubte er natürlich kein Wort, sondern befahl, das Wunderkraut mit allen möglichen Werkzeugen und Maschinen auszugraben und zu ernten: aber man roch nichts, wer die matschigen, zerzausten Kräutlein auf seinen Befehl probierte, schmeckte und spürte nichts davon.

Als schon fast alle Flächen, die vom Wunderkraut bewachsen waren, bis auf wenige Kräutlein verwüstet waren, ordnete er an, dass seine Großmutter seinen drei Vizegenerälen ihre Geschichte noch einmal erzählte. Alle drei mühten sich ab, ein Kräutlein mit Geduld heraus zu ziehen. Zwei Vizegeneräle mühten sich vergeblich – dem letzten aber gelang es nach vielen Stunden. Als er den Duft der herausgezogenen Wurzeln wahr nahm, wurden ihm die Last und Verantwortung all seiner Untaten als Helfershelfer des unglaublich starken Mannes schlagartig bewusst und er tötete sich selbst augenblicklich, indem er sich in sein Schwert stürzte. Die anderen beiden Vizegeneräle brachte der Vielfraß eigenhändig um, da sie versagt hatten.

Die Großmutter des starken Mannes kehrte traurig und erschüttert nach Hause zurück. Da wurde ihr heimlich die Nachricht überbracht, dass das Kind, das sie zuerst bei dem Wunderkraut getroffen hatte, in einem Kerker der Hauptstadt gefangen sei. Sofort machte sie sich auf den weg dorthin. Sie verspürte das Bedürfnis, sich bei dem Kind zu entschuldigen.

Das Kind nahm aber die Entschuldigung der Großmutter nicht an. Es sagte:

„Was Du getan hast, hast Du getan und es hatte schreckliche Folgen. Ich kann Dir aber nicht verzeihen, da Du das, was Du tun KÖNNTEST, nicht getan hast – und Du bist die einzige, die es tun kann: versohle Deinem Enkel, der glaubt, ein unglaublich starker Mann zu sein, den Hintern … denn Du bist die Einzige, die das tun kann!“

„Ich bin eine schwache, alte Frau,“ erwiederte die Großmutter des starken Mannes, „wie könnte ich meinen Enkel körperlich züchtigen?“

„Du kannst!“ erwiederte das Kind. „Aber Du willst es nicht. Wenn Du es nicht tust, musst Du mit der Schuld leben.“

Zweifelnd machte sich die Großmutter auf den Weg. Sie erkannte aber, dass der Rat des Kindes die einzige Möglichkeit darstellte, an der Situation etwas zu ändern. Sie erwartete, dass der Enkel sie mit einem Schlag zerschmettern würde, wenn sie versuchen würde ihm Gewalt anzutun. Aber sie erkannte, dass es die einzige Möglichkeit sein würde, sich von Ihrer Schuld zu befreien.

So ging sie zu Ihrem Enkel, dem unglaublich starken Mann, legte ihn über das Knie und versohlte ihm den Hinter, dass er drei Wochen nicht mehr sitzen konnte. Dann stellte sie ihn ein Ultimatum: wenn er die Regierung nicht niederlegte, würde sie aller Welt erzählen, dass sie ihn über das Knie gelegt hatte – und es auch noch öffentlich wieder tun, sodass alle es sähen.

Da sah der unglaublich schwache starke Mann ein, dass sein Spiel aus war und zog sich hinter die sieben Berge zurück.

Seine Großmutter aber rief die im Land die Republik aus und machte das Kind und seine Großmutter zu Sonderministern für die Neuaufzucht des Wunderkrautes überall im Lande – und sie lebten glücklich und in Frieden.

Berlin, den 31. März 2022

Der Brandenburger Tor