Die tägliche Kolumne – 6 – Ratlos im Deutschen Theater

Ratlos im Deutschen Theater …

… an den Schauspielern kann es nicht gelegen haben, dass ich anschließend ratlos der nächsten U-Bahn zustrebte …

… denn die Schauspieler hatten gestern abend in der Kammer des DT die Regie-Einfälle in Spiel und Sprache großartig umgesetzt: fast beängstigend perfekt, wie die beiden marionettengleich ätherisch über die Bühne schwebten und dabei den Text hochsprachlich und gestochen in den Raum akzentuierten.

Zwei Elemente waren es, die diesen guten Eindruck wieder zunichte machten:

Erstens der Textinhalt, der sich in banalen Endloskreisen an den scheinbaren Lächerlichkeiten der Ur-Religions-Metaphern (daher der Froschgott!) und den dämlichen religiös-geistigen Taschenspielertricks des 19. Jahrhunders abarbeitet.

Liebe Frau Lausund: nach Ionesco kann man „die letzten Dinge“ so nicht mehr bringen (außer in einem Musical) ohne das Publikum massiv zu unterfordern.

Zweitens die Aufblähung eines 40-Minuten-Monologs mittels lächerlicher Endlos-Tanzeinlagen mit brachialer  (also bedeutungsschwanger weil laut?) Soundkollage. Während sich ärgerliche Langeweile immer mehr ausbreitet, verflüchtigen sich die letzten positiven Ansätze des Stücks.

Angesichts der sehr guten Leistungen aller Darsteller hätte sich ein Buh verboten, denn die Autorin war nicht da.

Noch ein Gedanke, der mir dann in der U-Bahn kam: den Informationen zum Stück entnahm ich, dass es eigentlich ein Monolog einer Person (m/w) sei. Das Sowohl-als-auch Mann und Frau des Regieeinfalls mag ja ganz witzig sein und die Bühne besser bespielen. Aber ist es dem ticketzahlenden Theatergänger wirklich egal, ob aus einer Person für 40 Minuten sechs Personen für 90 Minuten plus Soundkollage plus Tanz werden?… ohne erkennbaren Zusatznutzen? … und letztlich ist es ja auch meine eigene Zeit, die währenddessen verstreicht (in der ich auf ein wirklich geistreiches Stück gehofft hatte).

Es drängte sich mir ein fatales Bild auf: jemand hatte einen Strohhalm in den Froschgott gesteckt und ihn dann riesig aufgeblasen … schrecklich. Liebe Intendanz: wenn ich in ein Musical gehen wollte, würde ich in ein Musical gehen.

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06.11.2023, Herbert Börger

Das fängt ja gut an – 260 – Kinobesuch: „ab 0 Jahre“

Das ist Körperverletzung!

… und Oma und Opa sind auch noch schuld!

Beginnen wir bei der löblichen Absicht: die jüngste Enkelin wird am nächsten Tag Geburtstag haben – die Großeltern sind aus Berlin in den Rhein-Neckar-Raum weit angereist. Damit die Mutter sich den Vorbereitungen ungestört widmen kann, hat die fachkundige Oma vorgeschlagen: „Wir gehen heute Nachmittag mit den beiden Mädels ins Kino.“ Die Mädels sind (fast) 7 und 9 Jahre alt.

Gesagt getan. Man macht sich auf den Weg zu dem Kinocenter mit 18 Kinosälen. Drei Filme „ab 0“ laufen zum besagten Zeitpunkt – die Großeltern hätten ja gerne „Paddington“ gesehen – den kennt die aufgeweckte Brut aber schon. Also bleiben wir bei den „geschrumpften Eltern“ hängen.

Die Großeltern waren sehr-sehr lange nicht mehr im Kino (dank beschaulichem Leben auf dem Lande – 50 km entfernt von jedem Mega-Kino in den letzten Jahrzehnten!). Frohgelaunt verkünde ich schon bei der Anfahrt, dass ich zu diesem Ereignis Popcorn „brauche“. Da ahnte ich noch nicht, dass die Vernichtung von überschüssigen Mais-Beständen in Form von Popcorn ja der eigentliche Zweck eines solchen Kino-Centers ist … Sobald man das Foyer betreten hat, ist das allerdings klar: das Foyer wird von Popcorn-Silos einer leistungsfähigen Verkaufsstelle beherrscht! Und tatsächlich haben wir mehr für Popcorn und Soft-Getränke gezahlt als für die Karten (die Großeltern kommen auch zum Kinder-Preis ins Kino – alles andere wäre wirtschaftlich sinnlos, denn die Finanziers müssen ja spendier-bereit bleiben!).

Oma spendiert also eine 2-Liter-Tüte Popcorn für uns vier (es gab auch 5-plus-Liter-Eimer…) und Getränke – und schon tauchen wir in die rote Plüsch-Hölle ein. Wir teilen uns mit einer anderen Familie eine mittlere Reihe – der Rest des Saales ist leer! Als wir später gehen, sehe ich, dass sich ganz oben noch eine Handvoll Leute eingefunden hatten.

Ein bisschen hatte ich mich schon gewundert: die Popcorn-Mengen konnten wir unmöglich direkt vor dem Film und innerhalb des 15-minütigen Werbevorspanns vertilgen: aber das laute Rascheln der Tüte und das krachende Kauen würde doch die Aufführung stören…? Da wusste ich eben noch nicht, dass DAS nicht unser Problem sein würde!

Der Vorhang geht auf: die wuchtige Sound-Anlage presst uns mit den ersten Tönen tief in die weichen Sessel. Ich spähe besorgt zu den Mädchen – ich kann bei denen aber keine panischen Fluchtreaktionen feststellen, wie sie in mir selbst aufkeimen. Meine Frau und ich sehen uns mit schmerzverzerrtem Gesicht an: naja wohl die Werbung? … ich stelle meine Hörgeräte um 3 Stufen herunter! Alles Folgende nahm ich also nur um -9 dB reduziert wahr, war aber am Ende völlig fertig. Die Ironie der Situation liegt darin, dass ich für den Geburtstag der jetzt Siebenjährigen einen Kopfhörer als Geschenk ausgesucht hatte – und wählte einen Kinder-Kopfhörer, der bei 85 dB abgeregelt wird, da die Gehöre der Kinder bei Belastungen darüber unwiederbringlich geschädigt werden!

Ich will es kurz machen: der Kino-Ton BLIEB währen der ganzen Filmes in der Lautstärke, die ich auf 95 bis 120 dB schätzte… in einem Film „ab 0 Jahre“.

Zum Film selbst werde ich hier nichts weiter sagen als den einen Satz, in dem der gesamte 90-minütige Inhalt vollständig zusammengefasst ist: eine Geister-und-Spuk-Kommödie im Milieu von 14-16-Jährigen im Stil eines Hochgeschwindigkeits-Action-Filmes. Als die Kids auf dem Dach der Schule in schwindelnder Höhe herumklettern, bemüßige ich mich, zu den Mädchen zu sagen: „Aber nicht nachmachen!“ und erntete einen Blick mit verdrehten Augen von der Älteren, der deutlich „Opa!“, sagte  …

Fazit: die Kinder und wir haben Unmengen von Popcorn gegessen – und dabei die Reihe eines Kinos im Stile einer Schneekanone zugemüllt! Es grenzt an ein Wunder, dass sich niemand übergeben musste …  Die Kinder waren 90 Minuten dem Geräusch eines startenden Jumbo-Jets ausgesetzt und ihren Gehirnen wurde eine aberwitzig-sinnlose Story vorgesetzt, die notdürftig von ein bisschen Dramaturgie zusammengeflickt war!

Aber wir hatten einen sehr schönen Ausflug mit den Enkel – getrübt von ein paar saftigen Schuldgefühlen der Großeltern …

Herbert Börger

Nachtrag: aber dies ist nun wirklich ernst gemeint – und sollte nicht durch den Stil der Glosse relativiert werden! Wirklich frech und ärgerlich ist die Platzierung von massiver Produkt-Werbung in diesem Film: es handelt sich im Grunde um einen sehr-sehr langen McDonald-Werbespot – im Gewand eines Kinder-Jugend-Film! Soweit ich dem Vorspann entnommen habe, wurde der Film auch von der Filmförderung mitfinanziert. Gibt es da gar keine Schamgrenze mehr?

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 11. Februar 2018

 

 

Das fängt ja gut an – 267 – schlechteste Krimi-Groteske ever

Scheitern auf allerhöchstem Niveau…

Ich hatte den für das deutsche Fernsehen produzierten Film „Die vermisste Frau“ gesehen – angelockt durch die Namen von Spitzen-Darstellenden wie  Matthes – Harfouch – Hartmann… und hatte den Film sofort danach vergessen (ich schwör’s!). Ich erinnere mich nur noch an meinen Gedanken: warum haben sie den Trailer gezeigt anstatt des Filmes?

Gestern habe ich mir beim Einschlafen die Aufgabe gestellt, beim Aufwachen an das Sinnloseste zu denken, das ich in der vergangenen Woche getan habe.

Das funktioniert tatsächlich oft. Die Komplikation besteht darin, aus dem konfusen Wirrwarr, das beim Aufwachen aus meinem Unterbewusstsein an die Oberfläche dringt, das „Richtige“ herauszufinden (Hinweis: man findet es immer, da man das ja selbst entscheidet…). Hier besteht das eigentliche Problem darin, dass ich mich manipulieren könnte… Ich bin aber überzeugt, dass diese halb-bewusste Aufwach-Phase (auch „luzide Traumphase“ genannt) genau der Moment am Tage ist, an dem der freie Wille in meinem Kognitions-Apparat tatsächlich frei ist, denn „es denkt mich“ anstatt dass ich versuche zu denken: also ist die Fehler-Quote der Selbst-Täuschung hier am geringsten.

Es beginnt damit, dass das leise Grummeln der Ferienflieger, die kurz nach sechs Uhr im 2-Minuten-Takt von Schönefeld aus Menschen für ein paar Euro auf die Kanaren katapultieren, mich bis kurz unter die Oberfläche meines Bewusstseins holten und mich dann dort hängen ließ – die perfekte Ausgangs-Situation für den gefassten Plan! (Nach ca. 10 Starts ist es wieder eine Stunde lang still!)

Jetzt fing ich an, einen Science-Fiction-Film zu drehen, der erstens total zusammenhanglos dahin driftete und zweitens grottenmäßig schlecht war. Ich führe das darauf zurück, dass ich im wirklichen Leben nie SciFi-Filme sehe, weshalb mir natürlich einfach die Basis fehlte, auf der ich das Genre hätte imaginieren können. Ein Beweis dafür, dass ich mich tatsächlich dem Zustand der schonungslosen Wahrheit und des freien Willens näherte: selbst im halbwachen Zustand erschien mir mein eigener Film sinnlos und furchtbar un-gekonnt … Ich erinnere mich nur noch an ein paar Wesen, an denen sich Gliedmaßen vom Körper lösten und schwerelos durch den Raum davon schwebten. Das wäre Herrn Lucas sicher nicht passiert. Ob er allerdings immer so schonungslos ehrlich zu sich war wie ich heute früh?

Das kann es aber nicht gewesen sein – dachte es mich gerade: da tauchte das Gesicht von Herrn Matthes auf – (so von seitlich-schräg-hinten aufgenommen, so dass man glaubt, sein rechtes Auge hängt halb aus der Augenhöhle! Wunderbar!) – Herr Matthes sprach: „Sorry, ich hatte schon gehofft sie würden den Film gar nicht mehr zeigen… Wir haben das schon 2016 gedreht und als der uns vorgeführt wurde, habe ich gefragt: >Und wann wird er geschnitten?< Die Antwort war: das ist eine Kriminal-Groteske – die braucht man nicht zu schneiden – jede Dramaturgie ist da nur schädlich! – Das ist nicht meine Meinung – also nix für ungut: soll nicht wieder vorkommen!“ Und Herr Matthes verschwand.

Damit war beantwortet, was das sinnloseste war, was ich vergangene Woche getan habe. Die Erklärung des Schauspielers traf genau den Punkt meiner eigenen Wahrnehmung.

Auch ich teile die Meinung nicht, dass eine makabre Krimi-Komödie oder Groteske keine Dramaturgie brauche. Man muss sich darum aber weiter nicht kümmern, wenn man bereits 1966 Polanskis Film „Wenn Kadelbach kommt“ gesehen hat, dem Fachleute bescheinigten: „Polanskis zweiter in England entstandener Spielfilm fasziniert durch dramaturgisches Kalkül und die suggestiv verdichtete Atmosphäre des Makabren.“ (Quelle: Lexikon der intern. Films)

Schlussfolgerung: Noch vorsichtiger sein, wenn die ARD hausgemachte raffinierte Kost anbietet… Also besser ARTE gucken!

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 3. Februar 2018

 

Das fängt ja gut an – 269 – Demographie und Rente

Wacht auf – Ihr Jungen: Rente ist Eure Zukunft!

Wird das Rentensystem weiterhin zwischen den Fronten der Klientel-Politik vermurkst?

Kein Mensch kann wirksam in die Zukunft blicken – das liegt, wie immer wieder betont werden muss, daran, dass die betrachteten Dinge in der Zukunft liegen. Besonders unsicher sind wirtschaftliche Zukunftsprognosen.

Diese Feststellung entläßt aber die politischen Eliten nicht aus der Pflicht, wenigstens zu VERSUCHEN, einigermaßen solide Entwürfe für die Zukunft zu machen und auf deren Basis solide Staatsfinanzen, Sozialkassen etc. in die Zukunft fortzuschreiben – verbunden mit allfälligen Korrekturen, wenn nach einigen Jahren ein Teil der Zukunft Vergangenheit geworden ist.

Die Einflüsse  auf die zukünftigen Entwicklungen sind komplex – deswegen gibt es bei uns einen großen Bereich staatlich finanzierter aber absolut FREIER Wissenschaft für die Volkswirtschaftlichen, sozialen und weltwirtschaftlichen Erkenntnisbereiche, die man braucht um in die Zukunft zu planen. Eine der wichtigsten und wertvollsten Grundlagen ist die Demografie!

Die Wissenschaften taten und tun meistens sehr brav ihren Job, da im Fortschreiben der Erkenntnisse ja das Versprechen liegt, dass die Wissenschaftler auch zukünftig einen sicheren und freien Arbeitsplatz haben (solange der nicht von KI bedroht wird….). Außerdem kann man dadurch, dass man sich besonders anstrengt zu Ruhm und Ehre kommen (und vielleicht zu Nebeneinkünften in der Versicherungswirtschaft – aber das ist ein anderes Thema….).

Die politischen Eliten sind verpflichtet, in erster Linie die sachlichen Erkenntnisse der Wissenschaft – und nicht etwa ideologische Modelle – in verantwortliches politisches Handeln umzusetzen. Bei den politischen Entscheidungsprozessen können dann Gestaltungselemente und Priorisierungen einfließen, die versuchen dürfen, einen gewollten Gestaltungs-Einfluss auf die zukünftigen Entwicklungen im sozialen, wirtschaftlichen oder klimapolitischen Bereich zu nehmen.

Allerdings ist es die oberste Pflicht der politischen Eliten, die Erkenntnisse der Wissenschaften als Grundlage der Gestaltungsprozesse unter den Aspekten eines gesellschaftlichen Konsenses (z.B.Solidarität) einzusetzen. Wer sind die politischen Eliten? Das sind im Prinzip alle, die ihren Lebensunterhalt im Bereich der vier „Gewalten“ verdienen: Exekutive, Legislative, Judikative und Presse/Medien. Die politische Elite ist verpflichtet, jedem Bürger des Staates die wissenschaftlichen Erkenntnisse verständlich zugänglich zu machen, da ja der einzelne Bürger – Sie und ich – die „Moleküle“ des gesellschaftlichen Konsenses sind! Nach unserer Verfassung haben die politischen Parteien in ihrer Verankerung in dieser Gesellschaft bei diesem Prozess eine besondere Verantwortung.

Dieser Forderung werden die politischen Eliten – voran die Regierung – derzeit aber nicht gerecht: es wird „auf Sicht gefahren“ – man hat Beiträge und Renten der kommenden 7  Jahre (!) im Blick… müßte aber ein Konzept für 30 – 60 – 90 Jahre haben (1-2-3 Generationen)… und dies auch offen legen (wobei so ein Konzept für die Renten bekanntermaßen sowohl aus besser vorhersehbaren als auch weniger gut vorhersehbaren Komponenten besteht!). Aber dieser Versuch wird überhaupt nicht gemacht – anstatt dessen wird bei den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen wieder nur an kurzzeitigen Effekten gebastelt. Tatsächlich wird dem Wähler etwas „versprochen“, was ziemlich genau der Prognose für 7 Jahre entspricht (und was bis auf die gegenfinanzierende Einnahmenseite sehr genau der Wirklichkeit entsprechen wird…) Sieben Jahre! Dabei wird das Defizit des Denken und Handelns sogar „hellsichtig“ eingeräumt – gleichzeitig mit einem blind und populistisch motivierten Eingriff in die Rentenformel wird VERSPROCHEN, dass DANN aber eine Rentenkommission mit Vertretern von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Wissenschaft eingerichtet werden soll, um für die nächste Generation voraus zu planen…

Jetzt-immerhin-doch-schon!?

Warum arbeitet man dann nicht jetzt schon mit der Kommission daran, ehe man die Rentenformel schon wieder aus Klientel- oder Interessen-getriebener Motivation (quasi-Dauerwahlkampf) antastet?

Vermutlich weil man schon ahnen kann: mit ein paar Feigenblatt-Wissenschaftlern (ohne Macht!) wird die Wissenschaft ja sowieso wieder gegen die Interessenvertreter untergehen?

Die gegenwärtigen Vorgänge erinnern mich doch stark an die Erfahrungen der letzten 40-50 Jahre, deren Zeuge ich sein durfte: Ende der 60er Jahre wurde nicht nur die Begrenztheit der Welt-Ressourcen erstmals politisch bewusst gemacht – um dann für Jahrzehnte ignoriert zu werden! – es wurden auch erste GESICHERTE Prognosen der Demografie für das nächste halbe Jahrhundert erarbeitet – die inzwischen alle eingetroffen sind und allen Regierungen seitdem mahnend vorlagen. Die darin vorhergesagte „Alterung der Gesellschaft“ oder „Umkehrung der Bevölkerungspyramide“ ist EINES der Grundelemente für viele gegenwärtige Probleme – und nicht nur des Rentensystems (besonders eines solchen, wie unseres, das von der Hand in den Mund lebt…. d.h. dass das Kapital für die zukünftigen Renten laufend „verdient“ werden muss – durch Einzahlungen der jüngeren Hälfte der Bevölkerung!).

Aber das sind nicht die einzigen Auswirkungen der „Überalterung“: Gesundheitssystem, Wohnungsbedarf, Schulen, ÖPNV… es gibt praktisch nichts in unserer Gesellschaft, das durch diese Veränderungen nicht beeinflusst wird.

… und trotzdem wurden die gesicherten demographischen Erkenntnisse von den politischen Eliten jahrzehntelang ignoriert! Bis es tatsächlich nicht mehr anders ging, da man auf die akute Situation reagieren musste. Rente mit 67 ist eines der prominentesten Beispiele der notwendigen Reaktionen – solange aufgeschoben, bis IRGENDEINE Regierung diesen schwarzen Peter haben musste (Ironie: es war die sozialdemokratisch geführte…). Bis heute dominieren immer noch  die Klientel-Schlachten das Thema: Interessen der privaten Versicherungswirtschaft hier – sozialpolitische Wunschvorstellung da! Die SACHE bleibt weiterhin auf der Strecke!

Der derzeit verhandelte „Kompromiss“ für das Rentensystem ist ein höchst ärgerliches Feigenblatt – ich empfehle der jüngeren Hälfte der Bevölkerung endlich aufzustehen und sich für die eigenen Interessen zu engagieren!

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 1. Februar 2018

 

Das fängt ja gut an – 274 – Alice Salomon Hochschule (3)

Update zu ASH-Fassade mit Eugen-Gomringer-Gedicht

Wo bleibt der Respekt – die Zweite…

Nach der Mitteilung über das Abstimmungsergebnis an der Alice-Salomon-Hochschule war ich bereits auf die öffentliche Reaktion eingegangen – am Tag danach kamen noch Leserbriefe zum Thema in der Tagespresse dazu – mit höchstens ein oder zwei Stimmen, die sich nicht dem ASH-Bashing anschlossen.
Ich komme mir vor wie jener Autofahrer, dem hunderte Falschfahrer entgegen kommen:
aus meiner Sicht werden derzeit 95% der Beiträge – einschließlich der redaktionellen Tagespresse-Artikel – dem Thema nicht gerecht.
Die Sach-Debatte ist untergegangen – es werden nur noch Meinungen präsentiert: neben Sexismus-Genderismus-Klischee-Schlagworten (und staatstragenden Freiheit-der-Kunst-Statements!) wurden die Positionen der Studierenden nirgendwo mehr sachlich gewürdigt… (Nicht einmal der Versuch dazu gewagt!)
Anscheinend hatte kaum jemand die kluge Stellungnahme der Prorektorin Völter gelesen.
Ich beschäftige mich seit 30.8.2017 damit – und habe in zwei Stufen darüber Meinungen in meinem Blog veröffentlicht.
Stets habe ich vorher die Argumente von allen Seiten erst geprüft und das Thema „sich setzen lassen“. Im ersten Impuls stand ich nämlich auch auf der Seite der ASH-Kritiker.
Die aufgeregte Schnell-Schlagabtausch-Debatte macht den Eindruck, als ginge hier gleich das Abendland unter. Ist Toleranz in unserem Lande schon wieder Mangelware geworden?
Machen die teilweise radikalen Leserbrief-Reaktionen – bis zum Aufruf zur Sachbeschädigung durch Sprayen auf der Fassade! – nicht nachdenklich?  Bürger betrachten die Studierenden der ASH als Political-Correctness-Monster, deren zukünftige Schüler „Opfer“ dieser Lehrenden sein werden.
Witzig ist dann aber, dass gegen die Hochschule der Vorwurf des vorauseilenden Gehorsams gegenüber den Herrschenden erhoben wurde: da scheint man in der ASH aber in die falsche Richtung vorausgeeilt zu sein (Ironie!), da sich bisher ja alle Vertreter des „herrschenden Systems“ am ASH-Bashing beteiligt haben (Fakt!).
Da sich ja auch die Tochter des Dichters so besorgt für dessen Rechte eingesetzt hat, möchte ich noch einmal daran erinnern, dass niemand das Gedicht „Avenidas“ verbieten wollte oder den Ruf des Dichters schädigt. Lassen Sie die Sache mal endlich zur Ruhe  kommen – dann werden Sie wahrscheinlich feststellen, dass durch den Vorgang die Bekanntheit des Dichters und des Gedichtes international extrem gestiegen ist – und Nora Gomringer nutzt den Vorgang phantasievoll dazu, dem noch ein „Sahnehäubchen“ aufzusetzen.
Liebe ASH: mit meinen geistigen Mitteln werde ich Ihnen weiter gegen die „geistige Enteignung“ Ihrer Fassade zur Seite stehen.

Herbert Börger

P.S.: Genauso würde ich jedem Künstler beitreten, dessen Schaffen WIRKLICH beschädigt oder verboten würde, was hier nicht der Fall ist.

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 27. Januar 2018

 

 

 

Das fängt ja gut an – 275 – Alice Salomon Hochschule (2)

Gomringer-Fassaden-Gedicht (ASH)

Politische Korrektheit? – Sexismus? – Trigger Warnings?

Darauf hatte ich gewartet: Die Alice-Salomon-Hochschule hat demokratisch entschieden, wie es mit dem Gedicht von Eugen Gomringer an der Fassade weiter geht.

Vorgestern kam die Entscheidung: Das Gedicht wird übermalt – die ohnehin fällige Renovierung wird dazu benutzt, ein neues Gedicht einer ASH-Lyrik-Preisträgerin daran anzubringen (Text noch nicht bekannt) – und danach im 5-Jahres-Turnus wieder.

Und ich habe bewusst zwei Tage abgewartet: wie erwartet, hat sich mittlerweile fast JEDER schon dazu geäußert (inclusive. Berliner Kultur-Senator Lederer, BRD-Kultur-Staatsministerin Grütters, Tochter Nora Gomringer, … und viele-viele mehr: im Grunde ein kleines Shit-Störmchen gegen den Beschluss der Hochschule ).

Ich war tatsächlich überrascht, dass sich in den für mich bisher sichtbaren Kommentaren zu 100% Kritik an der ASH-Entscheidung findet – die Vorwürfe reichen von Zensur über Populismus und übertriebene Politische Korrektheit zu unterstelltem Sexismus-Vorwurf gegen das Gedicht!

Ich finde, das ist starker Tobak!

Wo bleibt hier der Respekt? Respekt vor der demokratischen Entscheidung sehr vieler junger Leute (ca. 3.700 StudentInnen) und dem Personal der Hochschule! Diese Jungen Leute werden überwiegend im Erziehungs- und Bildungs-Bereich unseres Landes berufstätig werden. Sie haben einen langen, mühsamen, legitimen demokratischen Prozess durchlaufen, nachdem sie sich zuvor kritisch mit einem Kunstwerk im Lichte gesellschaftlicher Verhältnisse befasst haben.

Wo bleibt die Toleranz?

Die öffentliche Reaktion ist in meinen Augen völlig unangemessen in Form und  überheblich im Ton: selbst höchste kulturelle Repräsentanten von Bund und Land trompeten sofort ihre (persönliche) Meinung hinaus, ohne auf die Argumente der Betroffenen auch nur im Ansatz einzugehen. Das Niveau der Argumente läßt vermuten, dass hier mindestens der Untergang des Abendlandes eingeläutet wurde! Frau Grütters haut den Studenten das Grundgesetz um die Ohren (Freiheit der Kunst!) – und bekommt sofort die FAZ dafür als Forum. Liebe Frau Grütters: das ist völlig unangebrachtes und unsensibles Herrschaft-Gehabe gegenüber jungen Menschen, die dabei sind ihren Weg in der Gesellschaft zu finden. Selbst wenn Sie sachlich im Recht wären – so entspricht Ihr Verhalten dem Schießen mit staatlichen Kanonen auf Spatzen, die gerade flügge werden. Wenn Sie in der Sache so besorgt sind: warum haben Sie sich nicht erst mal einen Gesprächstermin mit den Vertretern der Hochschule besorgt, um die andere Seite angemessen zu Wort kommen zu lassen – ehe Sie Ihren geradezu . Haben sie etwa nicht die sehr klugen Erläuterungen von Frau Völter zu dem Vorgang gelesen?

Es handelt sich um eine „Innere Angelegenheit“ der Hochschule – auch wenn sich das Gedicht an einer Außenfassade der Hochschule befindet. Genau das ist auch ein Kern-Aspekt der Angelegenheit: mit dieser Fassade „spricht“ die Hochschule zur Außenwelt! (Aber diese Außenwelt hat kein Recht ihrerseits mitzusprechen – hat sie allerdings seit Monaten sehr heftig getan!)

am 25.12.2017 habe ich dazu schließlich diesen Beitrag in meinem Blog verfasst:

Das fängt ja gut an – 306

Am Schluss meiner (kritischen) Auseinandersetzung mit dem Thema schrieb ich:

„Im Falle der Causa „Gomringer-Gedicht“ gilt nach meinem heutigen Recherchen-Stand Entwarnung bezüglich Trigger Warnings: dieser Vorgang gehört in den Bereich normaler und gerechtfertigter Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Verhältnissen – unabhängig davon, ob man der Meinung der Studentinnen ist – oder nicht.“

Meine eigene Haltung zu dem Gedicht von Eugen Gomringer war und ist:

Ich finde das Gedicht sehr schön; ich finde es (aus meiner Perspektive als Mann, 72 Jahre) nicht offensiv oder verdeckt sexistisch.

Mein erster Impuls Ende August 2017, als die Causa hoch-kochte war spontan ein Anschluß an die herrschende Kritik gegen den AStA der ASH – aber auch schon Unverständnis bezüglich des PEN-Club-Vorwurfes der Zensur (sorry: das ist einfach Quatsch!).

Dann ging ich den Argumenten und Begründungen der Hochschule nach (Erklärung von Prof.Dr. Völter!) – und ließ das ganze fas 2 Monate sacken – da ich mich aber gerade permanent mit dem Thema der „Trigger Warnings“ beschäftige, kam ich immer wieder zum Fall zurück.

Dann habe ich mich mehr in die StudentInnen versetzt und habe dann – die oben schon angedeutet – festgestellt: das ist „ihre“ Schul-Fassade, die mit dem Gedicht nach außen spricht – in die Gesellschaft hinein, in der sie sich später einbringen wollen. Erst dann habe ich den Konflikt erkannt: ja, das Gedicht ist ein lyrisches Zeugnis einer früheren gesellschaftlichen Epoche (1951) bezüglich der Rolle der Frau – und ja: das ist nicht die Rolle der jungen Menschen die da hinaus gehen wollen!

Probieren sie das mal aus ! – vielleicht gelingt es Ihnen dann auch, Verständnis für den Vorgang aufzubringen – ganz abseits von Zensur-Genderismus-PoliticalCorrectness-Debatte und Getöse…

Herbert Börger

P.S.: Die kluge Lösung, dass jetzt im 5-jährlichen Turnus ein Preisträger-Gedicht an die Fassade kommt, vermeidet auch jegliche Diskriminierung von Eugen Gomringer!

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 26. Januar 2018

 

Das fängt ja gut an – 278 – Homo Digitalis

Homo Digitalis oder KI (=Künstliche Intelligenz) – Thema verfehlt ?

Ganz aktuell gibt es gerade zum Jahreswechsele 2017/18 eine Sendereihe „Homo Digitalis“ im Bayerischen Rundfunk. Ich habe mir einige Beiträge angesehen (noch nicht alle), dabei besonders den über die„Optimierung“ unseres Gehirns – hier provokativ-ironisch „Upgrade für dein Gehirn“ genannt. (die-zukunft-des-denkens-27-homo-digitalis-ein-upgrade-fuer-dein-gehirn-av:5a6200de71174a0017be75d1).

Das gesamte Projekt heißt „Serie über die Zukunft des Menschen: Homo Digitalis“.

Partner sind BR, Arte, ORF, Süddeutsche Zeitung, Bilderfest – und Fraunhofer IAO.

Unbestritten gibt es in einen enormen Informationsbedarf zum Thema Digitalisierung, das in der Gesellschaft schon heute sehr viele Bereiche betrifft und sicher immer drängender auf alle Bürger zu kommt – auch in solchen Bereichen, bei denen man sich nicht mehr in „freier Wahl“ für einen analogen oder digitalen Kanal entscheiden kann.

Es ist sehr begrüßenswert, dass Medien sich diese Themen auf die Fahne schreiben. In der Reihe der oben genannten Partner des Projektes kann man davon ausgehen, dass die ersten vier eben die „Informationsanbieter“ sind, die sich einerseits des Fraunhofer-Instituts als technisch-wissenschaftlichen Berater hinzugezogen haben, und dazwischen steht offenbar eine Firma (Bilderfest), die wohl (als Auftragnehmer) für die Gestaltung und Vermittlung der Themenblöcke in den Videos zuständig ist (In ihrer Website nennt sie als ihr Motto: „Hauptsache unser Bewegtbild bewegt die Menschen.“)

Bevor ich zu meiner Kritik komme, möchte ich pauschal lobend über die Beiträge, die ich gesehen habe, hervorheben: es werden in relativ kurzen Abständen auch kritische Fragen und Bedenken eingeblendet. Das sind Fragen wie: „Wollen wir das wirklich so, wenn das mal realisierbar wäre?“ – „Ist das sinnvoll?“ – „Darf man das?“

Dadurch wird der Eindruck vermieden, die Macher der Berichte würden den Betrachter dahin drängen wollen, dass er ja zukünftig ganz gewiss sein Gehirn optimieren (lassen) müsse. Diese Gewissheit versucht ein junger, naiver Nerd in diesem Beitrag (als Start-up-Gründer vorgestellt…?) zu verbreiten, der dabei ernsthaft von der Notwendigkeit spricht, dass wir ein „Update“ für  unser Gehirn benötigen. Der Mann würde sehr gut in die „Singularity University“ von Ray Kurzweil passen. (siehe mein Blog-Beitrag: https://der-brandenburger-tor.de/?p=7404 )

Die behandelten Themenblöcke handeln im Grunde von sehr komplexen Sachverhalten in Grenzbereichen von Biologie, Medizin, Psychologie, Soziologie, Molekularbiologie, Genetik, Kognition-Physiologie, Physik, Elektronik, Computerwissenschaften, Künstlicher Intelligenz – um nur die wesentlichsten Themenfelder zu nennen.

Die Gefahr ist bei solchen möglichst populären, den Betrachter „bewegenden“ Darstellungskonzepten im Videoformat, dass um der Show willen nicht nur die Genauigkeit der Darstellung und der Eindruck der wahren Komplexität leidet, sondern die Wirklichkeit total verfehlt wird! Dies passiert in diesem Beitrag da, wo am „Ars Electronica Future Lab“ (Linz), die enthusiastische Reporterin angeblich die Drohne „mit ihren Gedanken startet„.

Verblüffend ist immer wieder, mit welchen billigen Taschenspielertricks manche KI-Propagandisten in ihrer eigenen Sache den informationshungrigen Normalbürger (buchstäblich!) hinters Licht führen!

Den dort gezeigten Versuchsaufbau, in dem die Drohne durch eine Auswertung der Gehirnstromkurven (seit Jahrzehnten als „EEG“ bewährtes Verfahren) gestartet wird, halte ich für regelrecht irreführend: die Testperson muss dabei nicht etwa denken „Drohne: steig!“ – sondern sie muss versuchen, jegliche konkreten „Gedanken“ zu unterdrücken und nur auf eine Lampe starren – damit die dann entstehende Gehirnstrom-Kurve elektronisch als Trigger benutzt wird, damit die Drohne aufsteigt. In dem Zusammenhang, in den das gebracht wurde, ist das für den Normalbürger irreführend in dem Sinne, als wäre das „Auslesen von Gedanken mittels Elektroden“ quasi ein Kinderspiel.

Es wäre viel aufschlußreicher gewesen, wenn man versucht hätte, die ja schon existierenden Ansätze zur Steuerung von aktiven Prothesen durch das Gehirn der Prothesenträger prinzipiell verständlich zu machen.

Glücklicherweise gibt es in dem Film eine ganz kurze Sequenz, in der einer der Wissenschaftler ganz deutlich sagt, dass man noch sehr weit vom Verständnis  der Funktion des Gehirnes entfernt ist.

Dem möchte ich hinzufügen: man ist noch so weit von der Entschlüsselung der Funktion des gesamten Gehirns entfernt, dass man nicht einmal einschätzen kann wie weit man denn davon entfernt ist!

Jede Prognose des Zeitpunktes, in dem das möglich sein wird, halte ich heute für unseriös.

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 22. Januar 2018

 

 

 

 

 

 

 

 

Das fängt ja gut an – 321 – Quality Land

Lesen Sie das Buch Qualityland von Marc-Uwe Kling (2017 bei Ullstein erschienen) nicht….

… wenn Sie keine Freude an satirisch-dystopischen Zukunfts-Phantasien haben!

Wenn Ihnen das aber Vergnügen bereitet…

dann lesen Sie es unbedingt! … oder Sie warten auf den Film – behaupte ich hier einfach mal so: tatsächlich habe ich nämlich keinerlei Informationen, ob das geplant ist. Aber wenn ein Buch je danach geschrien hat, verfilmt zu werden, dann dieses!

Man braucht wahrscheinlich noch nicht einmal ein extra Drehbuch zu schreiben, sondern das Ding so wie es ist, in ein gutes Animations-Studio zu geben. Alleine die Charaktere: ca. 6-8 menschliche Wesen, unzählige durchgeknallte Androiden, außer Kontrolle geratene Künstliche Intelligenzen und defekte, aber sehr sympathische IT-Geräte… und einige Wesen, bei denen man sich nicht ganz sicher ist, zu welcher Spezies sie gehören. Da kann die Branche meines Erachtens unmöglich widerstehen!

Damit Sie meinen restlichen Sermon nicht unbedingt lesen müssen verrate ich hier gleich zusammenfassend worum es geht:

Durch eine konsequente Individualisierung der Geschäftsabläufe und der Medienangebote für den Einzelnen wird die Gesellschaft zu einer Anhäufung von in Blasen lebenden Narzissten und in der Folge davon wird jede Individualität beliebig  – und damit ausgelöscht.

Das erwarten sie ohnehin schon? Dann lesen Sie es aber trotzdem, weil es so klug und witzig gemacht ist. 

Aber der Reihe nach:

Wie kam ich an dieses Buch? Ich habe schon einmal berichtet, dass unsere Familie ziemlich rege über einen Messenger kommuniziert. In einem gesellschaftlichen Diskurs mit unseren drei Söhnen rief ich aus Begeisterung über die Beiträge dazu auf, dass wir gemeinsam einmal eine Geschichte über die Absurdität gesellschaftlicher Vorgänge schreiben sollten. Darauf kam sofort die Bemerkung des Jüngsten im Bunde: „Die gibt es schon! – Heißt Qualityland. – Du hast ja bald Geburtstag.“ So kam ich kurz danach an dieses Buch, das mir im Auftrage meines Sohnes von „TheShop“ (Lesart dieser Firma in Qualityland…) zugeschickt wurde …

Wenn Sie nicht auf den Film warten wollen, es folglich lesen werden, werden Sie es vermutlich nur  aus der Hand legen, um existenzielle Notwendigkeiten zu erledigen wie: bezahlte Arbeit, Kochen,  Essen (gut: dabei kann man weiterlesen… ist aber in Gegenwart von anderen Nicht-Androiden unhöflich), Stuhlgang (o.k – auch dabei….) und ggf. Geschlechtsverkehr.

Ich werde jetzt nicht die Handlung erzählen, denn die wäre einerseits sehr schnell erzählt – andererseits würde das der Geschichte nicht gerecht, weil diese eben im Wesentlichen durch ihre Vielschichtigkeit wirkt. Nur soviel sei verraten: Das Buch hat – wie alle dystopischen Zukunftsromane – Brave New World / Schöne neue Weltzur Mutter (oder Großmutter), den Genie-Streich von Aldous Huxley, der wie kaum ein anderes Buch der Weltliteratur ein neues, modernes Genre prägend begründet hat (wobei auch er natürlich in Grundelementen auf Vorgänger in der älteren Literatur – ab Plato und Sokrates – zurück greift).

Wenn Sie es dann ausgelesen haben werden, und Sie sollten so ein analoger Old-School-Typ wie ich sein, und angenommen Sie hätten noch ein Bücher-Regal, werden sie die schön gemachte Hard-Cover-Ausgabe (ich habe die helle, passt zu mir – es gibt auch noch eine „dunkle Ausgabe“ – man muss es nicht zweimal kaufen, sagt der Autor selbst!) in eben dieses Regal stellen. Dafür können Sie dann mehrere andere Bücher aus ihrem Regal aussortieren, deren Aussage „Qualityland“ gleich mit übernehmen kann:

  • den Simplex Simplizissimus
  • den Machiavelli
  • Peter Schlemihl
  • Michael Kohlhaas
  • Das Kapital
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Eine eigenartige Begebenheit will ich aus meinem eigenen Lese-Erlebnis von „Qualityland“ doch noch preisgeben:

Als ich die letzten 100 Seiten des Buches las, war Martin Schulz gerade als SPD-Vorsitzender mit 81,9% bestätigt wurde…. Auf S. 297 sagt im Buch der Geschäftsführer von „What-I-Need“ (=Google): 81,92 Prozent unserer Nutzer treffen ungern große Entscheidungen.“

Ist das ZUFALL? Oder soll es sagen, dass die Wahl von Martin Schulz keine „große Entscheidung“ ist…? Hatten alle SPD-Delegierten vorher Qualityland gelesen?

Übrigens heißt dort der Chef der „Fortschrittspartei“ in Qualityland: „Marty Vorstand“…

Ist das alles wirklich Zufall?

Wie gesagt, steht das Buch jetzt bei mir im Regal – ich werde es weiter beobachten!

Aphorismus des Tages: „Wer nicht an die Zukunft denkt, wird bald große Sorgen haben.“ (Konfuzius, 551 – 479 v. Chr.)

Das fängt ja gut an – 330 – Poetry Slam

Waren Sie schon mal bei einem Poetry Slam? (Meine Schätzung: 65% sagen jetzt ja…)

Für mich war es gestern DAS ERSTE MAL beim 7. Poetry Slam Adlershof, Berlin, veranstaltet von Meinhardt Medien im Erwin-Schrödinger-Zentrum. Slam Master: Felix Römer. Es war ein kleiner Saal zu 2/3 gefüllt mit gut 100 Zuhörern.

Da mir also der Vergleichsmaßstab fehlt, liegt auf der Hand, dass dies keine „Kritik“ der Veranstaltung oder der Autoren und Lyrik-Inhalte sein kann – es ist ein Erlebnisbericht!

Fünf Poetry Slammer waren vorher eingeladen – die Regeln kannten die gut, denn sie haben es offensichtlich nicht zum ersten Mal gemacht: obwohl die Vortragszeiten nicht gestoppt wurden, kam es nicht zu Längen. Es gab kein Programm zur Veranstaltung, und ich kannte keinen der Slammer. Daher ließ ich mir die Namen der Teilnehmer hinterher von Herrn Römer geben. Erst später habe ich recherchiert. So bin ich völlig unbedarft und unbeeinflußt dort hin gegangen – Das war gut so!

Ich dachte erst: nur fünf Slammer? Bisschen mickrig das Programm, mit 5 Minuten je Vortrag … Ich war halt Newbie! Hinterher war ich froh darüber – Mehr Teilnehmer hätten mein Gehirn kaum verkraftet.

Das Publikum war auch nicht durchgehend erfahren in dem Genre – nach „Blitzumfrage“ durch den Slam Master waren auch ca. 30% erstmals beim Poetry Slam dabei – erstaunlich. Noch erstaunlicher war die Alterspyramide im Saal: die lag sehr nahe bei der statistischen Gesamtverteilung der BRD (ohne Kinder – aber die muss man sich ja zukünftig ohnehin immer mehr wegdenken…) – das hätte ich viel jünger erwartet. Aber: das Genre ist ja auch schon 25 Jahre unterwegs… Dieses Publikum hatte die heilige Aufgabe, durch Klatschen, Johlen, Trampeln über die Qualität der Dichtung abzustimmen… Der Slam Master räumte seinerseits gleich ein, dass das ein völlig sinnloser Vorgang sei. Buh war auch erlaubt – hat aber keiner gemacht! ( Aus Wikipedia weiß ich, dass es auch Slams gibt, bei denen exakt Punkte vergeben werden – oder Wäscheklammern, die bei dem/der SlammerIn angeklipst werden… das muß sehr schön aussehen!)

Der Wettbewerbsmodus ging so: 1. Durchlauf: SiegerIn aus 5 ermitteln – 2. Durchlauf: SiegerIn aus restlichen 4 ermitteln (Reihenfolge des Vortrags umgekehrt!) – 3. Durchlauf: Finale zwischen den beiden SigerInnen. Natürlich lauter verschiedene Texte!

Kurzer Überblick über die Teilnehmer:

Aron Boks war der erste, der auf die Bühne kam – und wurde schließlich der Sieger des Abends. Sehr jung, Student in Berlin. Er stammt aus dem Harz – wie ich, aber es liegt ein halbes Jahrhundert und die ehemalig Zonengrenze zwischen unseren Geburten/Geburtsorten. Text, Sprache und Performance (Bühnenpräsenz!) bilden bei ihm eine homogene Einheit – und die ist nicht die Darbietung eines Sonnyboys sondern eher dunkel eingefärbt! Ich hatte den Eindruck, dass ihm das Talent regelrecht aus allen Poren dringt und kleine Pfützen auf der Bühne hinterlässt… Seine Texte waren die einzigen, die ich hinterher als Ausdruck ergattern konnte. Sein gedruckter Text ist extrem sperrig zu lesen – aber als er die Performance vortrug – völlig frei sprechend, traf sie mich direkt ins Herz. Sehr ungewöhnlich… Was er da gestern auf der Bühne zeigte hatte nichts mit dem Video auf Youtube, „Hoffentlich Berlin“, zu tun – außer dem gleichen Text (https://youtu.be/5Wqa5DUViqk). Sie würden Ihn nach dem Video nicht wiedererkennen: er muss in der Zwischenzeit sehr hart an der Performance gearbeitet haben. Und eine tolle Gedächtnisleistung erbringt er obendrein!

VUX (eine Frau!) stand gestern schließlich im Finale gegen Aron Boks – auch Studentin, auch jung, Berlinerin. Messerscharfe Texte, war in den  Acts mit frauen- und ich-bezogenen Texten unterweg und sprachlich und emotional sehr stark. Erkennbar war sie entprechend auch der Liebling der Frauen im Saal. Sie trägt teilweise frei vor, unterstützt von Blicken in Ihren Schrifttext. Das mach die Performance allerdings weniger frei – und hat sie vielleicht auch den „Endsieg“ gekostet.

Arno Wilhelm(-Weidner) schreibt sehr originelle, witzige Texte. Seine Texte entsprachen etwa meinem Erwartung-Klischee von Poetry-Slam – es reimte sich sogar teilweise… Allerdings liest er durchgehend alles ab. Das führt dazu, dass sein Gesicht überhaupt nicht mehr zu sehen ist, wenn der Text sich unten auf dem A4-Blatt befindet. Durch die fehlende Performance kann er wohl schwer auf der Bühne gegen die „high-performance“-Slammer gewinnen. Bei seinen Texten ist es für mich genau umgekehrt zu Aron Boks: seine Texte gewinnen, wenn man sie selbst liest, gegenüber Wilhelms eigenem Vortrag erheblich! Er erklärt, dass er Sätze liebt, die mit drei Punkten beginnen – ich liebe Sätze, die mit drei Punkten enden …

Fee (die andere Frau) stellt auf der Bühne das „strahlende Leben“ dar – sie schreibt sehr originelle-witzige Texte, verbunden mit einer sehr starken gesellschaftlich Botschaft und mit einer guten Performance (und ein bisschen Gedächtnisstütze). Wenn sie jetz noch immer völlig frei sprechen würde… Sie studiert Operngesang – und baute auch einen kurzen gesanglichen „Beweis“ in ihre Performance ein! Ihr Text „Wenn schlau das neue schön wäre…“ war aus meiner Sicht vielleicht der beste/originellste Eizel-Beitrag des Abends! (Kann man auch auf Youtube sehen/hören (https://youtu.be/n-GjxhHYBqU)  – ihr Vortrag war aber gestern abend eine ganze Klasse besser als im Video!)

Wolf Hogekamp ist – wie mir Felix Römer zu-raunte – DAS Poetry-Slam-Urgestein Deutschlands. Wikipedia bestätigt das! und petzt, dass er Jahrgang 1961 ist. – Er veranstaltete die ersten Slams in Berlin ab 1994 als Vorreiter im deutschen Sprachraum. Es ist also Ehrfurcht angesagt! Und berechtigt. Er liest seine Texte ab – aber die haben es in sich… Sein zweiter Beitrag war von kaum zu überbietender Skurrilität! Und dabei hatte ich ein déjà-vu: er bewegte sich exakt im Genre, das ich bisher nur von Torsten Sträter kannte (der 5 Jahre jüngere Sträter stammt hörbar aus dem Pott – Hogekamp vom Niederrein… darin liegt der ganze Unterschied!). Ist Hogekamp das Original? Danke Meister! Dass er den Slam anscheinend nicht gewinnen wollte (?) sondern die großartigen-jungen vor gelassen hat (?), ist ihm eventuell anzurechnen…

Ich finde es gerecht, die Lyrik-Helden zuerst zu loben…. Ungerecht wäre es aber, den Slam Master ganz auszulassen. Die extrem unterschiedlichen fragilen Gebilde von Lyrik, Texten und Performance müssen unbedingt in einem Rahmen zusammengehalten werden.

Felix Römer ist nach allerhöchsten Maßstäben ein sehr-sehr guter Moderator – einer, dem das im Blut liegt. Er hatte sich gestern Abend (oder macht er das immer so?) für den Weg der „Publikumsbeschimpfung mit Fingerspitzengefühl“ bzw. „Zuckerbrot und Peitsche“ entschieden. Die auftretenden Autoren-Performer sind bei ihm die Helden – das Publikum quasi der träge, etwas beschränkte „Koloss“, aber einer der gedemütigt werden will und manipulierbar ist und dafür mildernde Umstände bekommt.

Wir – Zuhörer und Jury in einer Person – durften in solche Klatsch-Orgien ausbrechen, dass mir heute noch die Hände weh tun (das fördert aber die Durchblutung! … und für nur 10 EURO eher eine billige Therapie!) – danke, Herr Römer.

Zum Schluß bleibt noch, den mutige Gast (eigentlich Zuhörer) zu erwähnen, der sich für eine musikalische Umrahmung des Programms mit Saxofon bereit erklärt hatte, obwohl er eigentlich noch übt… Chapeau!

Heute kein Aphorismus, sondern ein Zitat über den Slam-Zuhörer (aus dem Wikipedia-Artikel):

„Der durchschnittliche Slam-Zuhörer bewertet den künstlerischen Wert eines Gedichts nicht aufgrund literarischer Qualität, sondern im Vergleich zur allgemeinen Populärkultur, die ihn umgibt. Nur mit dem Wissen ausgestattet, welche Dinge sie persönlich in anderen Bereichen ihres Lebens unterhaltsam finden, wenden die Zuhörer die gleichen Standards an, um die Bühnendichter zu bewerten.“

Joe Pettus: How to win a poetry slam
Herbert Börger
© Der Brandenburger Tor, Berlin, 01. Dezember 2017

Das fängt ja gut an – 339 – Ist das unabhängiger Journalismus?

Die merkwürdigen Interviews von Tina Hassel im „ARD-Brennpunkt“ gestern.

Drei-Klassen-Journalismus?

Tina Hassel, Leiterin des Hauptstadt-Studions der ARD, ist eine brilliante Journalistin: sie sieht immer blendend aus, formuliert und spricht messerschaft und sprachlich pointiert – und sie hat alle Möglichjkeiten in ihrer Position: zu ihr kommt immer die erste Garde, wie gestern abend – die Kanzlerin, Martin Schulz und Christian Lindner!

In solch einer Ausgangslage stellt sich, da es sich ja in dieser Art von Sendung nicht um reine Unterhaltung handelt, die Frage, was Tina Hassel daraus macht?

Der Ablauf gestern im Brennpunkt war typisch für Frau Hassels Art der Gesprächsführung – und das in einer überspitzten Weise.

Die Kanzlerin bekommt zur Einleitung fro forma auch kritische Fragestellung (bis zur Frage nach Rücktrittsgedanken) – aber in der Folge wird sie geradezu gestreichelt: Angela Merkel strahlt und glänzt und kann sich ungestört über viele-viele Minuten blendend präsentieren und bekommt die richtigen Bälle zugespielt. Sie hat alles im Griff und fürchtet nichts: so sehen Siegerinnen aus. (Der unbefangene Betrachter des Geschehens der letzten sechs Wochen reibt sich die Augen…)

„Nicht-Oppositionsführer“ (da nur Parteichef) Martin Schulz wird im Vergleich dazu rüde abgefertigt – in gefühlt ein Drittel der Zeit (ich habe es nicht gestoppt): ihm fällt Frau Hassel sogar ins Wort, als er etwas sagt, zu dem sie anderer Meinung zu sein scheint! Leider macht es Martin Schulz ihr auch noch sehr leicht, ihn zweitklassig abzufertigen, da er (generell zur Zeit) wie ein verstocktes Kind argumentiert…

Ich hätte es danach nicht für möglich gehalten, dass Frau Hassel dies noch steigern könnte – aber sie konnte: der Mann, der eigentlich den Anlass für den „Brennpunkt“ geliefert hatte (ja: Herr Lindner), durfte in wenigen Sätzen „entkräften“, er habe nicht vorher gewarnt, dass das möglicherweise nix wird. Massive Anlässe zur Nachfrage in seinem Statment fielen einfach so unter den Tisch – und dann wurde er nicht einmal angemessen aus dem Gespräch verabschiedet, sondern entlassen wie ein Schulbub – bei der folgenden Schaltung mit Frau Ehni im WDR stand er sogar im Wege…

Frau Hassel: in Ihrer Sendung wurden starke Bilder geschaffen, die viel stärker wirken als die gesprochenen Worte! Unabhängiger Journalismus sieht so nicht aus.

Aphorismus des Tages: „Aufrichtig zu sein kann ich versprechen, unparteiisch zu sein aber nicht.“ (J.W.v. Goethe, 1749 – 1832)

Bild des Tages: Wie der Tau glänzt hängt vom Untergrund ab – und von der Nachschärfung in der Bildbearbeitung. (Ja es besteht ein bezug zum Text…)

WieDerTauGlänzt

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 20.11.2017