Das fängt ja gut an – 258 – Generation IKEA

Die Welt aus der Sicht von IKEA

Man kann unsere Generation (Jahrgang 1945/46) alle möglichen Etiketten anheften: Nachkriegskind, 68er, Mikroprozessor-Halbstarke (nicht native) …

Ganz sicher sind wir aber auch die erste „Generation IKEA“ – aber nicht die, die nichts anderes kennt als IKEA-Möbel, sondern diejenige, für die IKEA seine Möbel erstmals und ursprünglich gemacht hatte. Wir trafen auf diese Möbel nicht von Säuglingsbeinen an, sondern im Alter um die 20 – als wir zu Hause auszogen und uns kostengünstig einrichten mussten. Das konnten wir da zweckmäßig und in einem Stil machen, mit dem wir uns demonstrativ vom Einrichtung-Stil unserer Eltern abgrenzten und außerdem für die Kosten einer früher üblichen Zimmereinrichtung eine ganze Wohnung einrichten konnten.

Nun ist das bereits eine halbes Jahrhundert her – und der Gründer dieser Firma ist vor wenigen Tagen gestorben. Rückblick auf ein „Kulturgut“ – eine Konsum-Revolution. Ich halte es durchaus für möglich, dass es heute ganze Kontinente gibt, auf denen es kein Haus ohne Billy- oder Ivar-Regale gibt! In bedeutenden Museen sind die Produkte ja schon längst angekommen.

Weltanschauung ist eine Sache des Standpunktes und der Erfahrung.

Versetzen wir uns in die Welt eines heute 12-jährigen. Er macht Reisen mit seiner Familie. Egal, wo er ankommt mit Auto, Bahn oder Flugzeug: als konstante Wegmarke wird dort der blau-gelbe IKEA-Tempel bereits da sein – als auffälliges kulturelles Baudenkmal! Alle Länder und Städte sind so aufgebaut, dass man an den Einfallstoren IKEA leicht findet: alle Autobahnen, Highways und Flughäfen sind so angelegt worden, dass sie direkt neben IKEA  liegen! Nur die Eisenbahn-Schienenwege sind viel älter, und so wusste man damals noch nicht, dass man die Bahnhöfe dort hätte bauen sollen – kann man ja noch ändern!

Dasselbe Erlebnis, wenn man das Möbelhaus betritt: die Anordnung der Waren und Wege ist überall gleich – egal ob in Berlin-Schönefeld, Chicago oder Shanghai… wie ein Naturgesetz. Kirchen sind nach dem gleichen Prinzip konstruiert! Der Gründer muss ein weiser Mann gewesen sein…

Was haben die Menschen eigentlich gemacht, ehe es IKEA gab? – fragt sich der 12-jährige IKEA-Native. (Kein Druckfehler – ich wollte nicht „Naive“ schreiben.)

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 13. Februar 2018

 

 

 

 

 

Das fängt ja gut an – 309 – Der Rucksack

Der Rucksack – being backpacked

Wenn ich heute durch die Stadt „cruise“, tragen geschätzt/gefühlt >50% aller Menschen Rucksäcke auf dem Rücken. Ich nicht. Zu unserer Jugendzeit galt das als Ausrüstungsgegenstand zum richtigen Wandern. Besonders in der Stadt – auf dem Land war er häufiger im normalen Leben zu sehen. In der Stadt kennzeichnete der Rucksack jene, die früh vom Land in die Stadt gekommen waren und im Laufe des Tages wieder dort hin verschwanden.

Aus meiner Kindheit sah ich später die Bilder von den Menschen aus der Zeit kurz nach meiner Geburt (1945), auf denen vor allem viele Frauen jeden Alters zu sehen waren, die mit riesigen Rucksäcken unterwegs waren. Man erzählte mir, dass die Frauen darin alles „organisierten“ was die Familie zum Überleben in den ersten „schlechten Jahren“ brauchte. In den „guten Jahren“ verschwanden die Rucksäcke dann vollständig aus dem Stadtbild und dem alltäglichen Leben.

Der Anblick der vielen Menschen mit Rucksack heute löst in mir manchmal eine Erinnerungs-Assoziation aus meiner Kindheit aus. Das betreffende Erlebnis war schon in der „guten Zeit“ – Mitte der 1950er. Es betrifft die einzige Person meiner Kindheit, deren Bild für mich fest mit einem Rucksack verwachsen ist.

Ein- oder zweimal im Jahr zog ein alter Mann durch unsere Kleinstadt. Er trug einen Soldatenmantel, ebensolche Stiefel und einen sehr großen Rucksack und er hatte ein zerfurchtes, verwittertes Gesicht. Er zog auch von Haus zu Haus, zeigte irgend etwas vor und meine Mutter machte ihm immer ein paar Stullen – ob sie ihm auch Geld gab, weiß ich nicht.

Für uns Kinder war er eine Persönlichkeit – ein wichtiges Ereignis des Jahres. Er nahm sich viel Zeit, wenn wir uns um ihn versammelten: er erzählte Geschichten und wir begegneten ihm mit einer Mischung von Ehrfurcht und Grauen. Denn seine Erzählungen waren teilweise furchterregend: er erzählte uns, dass er im Krieg eine Kugel in den Kopf bekommen hätte, die da immer noch drin sei. Sie wandere in seinem Kopf umher. Das Loch, das die Kugel in den Kopf geschlagen habe, sei mit einer Metallplatte verschlossen.

Ich weiß nicht, ob das vollständig ersponnen war – es gibt ja so vieles zwischen Himmel und Erde … vielleicht war sogar ein Körnchen Wahrheit darin? Ich weiß auch nicht, ob ich das damals zunächst geglaubt habe: der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden ist ja fließend – da kann man das im Nachhinein nicht mehr sicher sagen…

Durch mindestens eine seiner Geschichten beschädigte er seine Glaubwürdigkeit doch nachhaltig, besonders weil er sie jedes Mal erzählte: er berichtete triumphierend, dass Königin Elisabeth II (ja! Lizzy war schon Queen!) im Hotel in Romkerhalle liege und ein Kind bekäme. (Romkerhalle war (und ist) ein kleiner Ausflugsort im Okertal, direkt am Fuße der Okertalsperre…) Aber es steigerte seinen Unterhaltungswert als Geschichtenerzähler tatsächlich noch weiter!

Daran, dass ich diese Szenen bis heute erinnere, in denen uns der „Kriegsversehrte“ (wie man damals diese Männer bezeichnete) als Kinder genial unterhielt, sieht man: die Mischung aus Gruseln und „Yellow-Press“ ist unübertrefflich.

Ich hatte dann später zum Rucksack für kurze Zeit ein sehr intensives Verhältnis – man nannte das bei der Bundeswehr „Sturmgepäck“!

Aphorismus des Tages: „Alle Leben sind Geschichten. Aber längst nicht alle sind wahr.“ (Erhard Blanck)

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 22. Dezember 2017

Das fängt ja gut an – 359 – Die Armut und die Stadt

Die Armut – die Stadt – Fritz Reuter… und ich

Im Nachgang meines Blog-Beitrages zu Stadt und Armut (-364) vor fünf Tagen, fiel mir das folgende Fritz-Reuter-Zitat ein, das man auch häufig in Aphorismen-Sammlungen findet:

Aphorismus des Tages:

Die große Armut in der Stadt kommt von der Poverteh her. (Fritz Reuter – Dichter – 1810-1874, Ut mine Stromtid II, Kap. 38)

Dieser Spruch wird ganz verschieden interpretiert: manche sehen darin den Ausdruck dafür, dass „die Armut (der Eltern) immer wieder neue Armut (der Kinder) gebiert“ – was durchaus so sein kann. Fritz Reuter war der große norddeutsche Dichter des feinsinnigen Humors und der berechtigten, sachkundigen Gesellschaftskritik. Vor allem aber ein vielschichtiger Erzähler gesellschaftlicher Zustände in der Mitte des 19. Jahrhunderts (in Mecklenburg).

Ich selbst kenne Reuters Werke seit meiner Teenager-Zeit (als die Teenie-Mädchen noch Backfische genannt wurden!). Mein Vater hat uns den ganzen langen Harz-Winter durch Reuters Werke vorgelesen…

Den Bräsig-Spruch habe ich immer so wahrgenommen, dass jemand etwas, das er auch nicht versteht, mit einem Fremdwort erklärt, das NICHTS erklärt, sozusagen die Anmaßung von in Wirklichkeit nicht vorhandenen Kenntnissen und Bildung – für die er dann noch große Bewunderung bei seinen Zuhörern erntet.

Um zu entscheiden, was Fritz Reuter nun wirklich gemeint haben könnte, habe ich nach Jahrzehnten mal wieder den Original-Text in der Werkausgabe aufgeschlagen, aus der mein Vater schon vorgelesen hat (Fraktur-Schrift, sehr eng gedruckt – Hempels Klassiker-Ausgabe).

Schon das Auffinden des Textes war ziemlich zeitintensiv, da die Stelle in den Aphorismen-Zitaten meist nicht genau mit Band und Kapitel zitiert wird (und oft auch falsch wiedergegeben wird…).

Ich habe dann das ganze Kapitel erneut gelesen und will gleich sagen, dass auch das Textstudium mir keine völlig eindeutige Entscheidung über die Bedeutung des Reuter-Zitates gebracht hat: vordergründig bestätigt sich zunächst in der direkten Handlung meine o.g. Erinnerung (Pseudo-Erklärung der Armut durch das französische Wort für Armut „poverté“), weil der Bräsig es eben auch nicht weiß… Das schließt aber nicht aus, dass der Autor Fritz Reuter selbst (feinsinnig-hintersinnig wie er ist!) mit der Erzählung eben doch genau das sagen wollte: Armut gebiert immer neue Armut, wenn man nichts gegen die Ursachen tut!

Allerdings prangert die Reutersche Erzählung einen Umstand aus der Zeit von 1848 (das Jahr, in dem die Erzählung spielt) ganz deutlich an: eigentlich sollte es auf Grund der arbeitsrechtlichen Verhältnisse der Tagelöhner in Mecklenburg auf dem Land keine Armut geben – wenn das Arbeitsrecht von den Gutsherren respektiert worden wäre. Er schildert dort sehr drastisch (in Form einer Rede des Inspektor Bräsig) dass der Rittergutsbesitzer „Pomuchelskop“ dieses Recht der Tagelöhner mit Füßen tritt und dass es deswegen eben doch bittere Armut auf dem Land gab, obwohl gerade die Landwirtschaft in normalen Zeiten tatsächlich in der Lage gewesen wäre, alle dort lebenden Menschen gut zu ernähren.

Diesen damaligen Verhältnissen verdanken wir vermutlich auch die Bezeichnung „nach Gutsherrenart“ – mit der der willkürliche Umgang mit dem Recht (vor allem im sozialen Bereich) gemeint ist.

Aber über die Ursachen der Armut in der Stadt, liefert Inspekor Bräsig hier bei Fritz Reuter keine tieferen Erkenntnisse.

Noch ein Nachtrag: Ja – seit neuestem nehme ich die Obdachlosenzeitung („Motz“) immer mit, wenn ich den Verkäufern eine Spende gebe!

Bild des Tages: Diesen wunderbaren Fußboden in der Berliner Gedächtniskirche werden die wenigsten Besucher bei Tag wahrnehmen, da das durch die Kirchenfenster blau gefilterte Tageslicht das Mosaik fast unsichtbar macht. Mir hat es der elektronische Sucher meiner Kamera sichtbar gemacht.

GedächtniskircheBoden

Herbert Börger, Berlin, 01. November 2017