Das fängt ja gut an – 359 – Die Armut und die Stadt

Die Armut – die Stadt – Fritz Reuter… und ich

Im Nachgang meines Blog-Beitrages zu Stadt und Armut (-364) vor fünf Tagen, fiel mir das folgende Fritz-Reuter-Zitat ein, das man auch häufig in Aphorismen-Sammlungen findet:

Aphorismus des Tages:

Die große Armut in der Stadt kommt von der Poverteh her. (Fritz Reuter – Dichter – 1810-1874, Ut mine Stromtid II, Kap. 38)

Dieser Spruch wird ganz verschieden interpretiert: manche sehen darin den Ausdruck dafür, dass „die Armut (der Eltern) immer wieder neue Armut (der Kinder) gebiert“ – was durchaus so sein kann. Fritz Reuter war der große norddeutsche Dichter des feinsinnigen Humors und der berechtigten, sachkundigen Gesellschaftskritik. Vor allem aber ein vielschichtiger Erzähler gesellschaftlicher Zustände in der Mitte des 19. Jahrhunderts (in Mecklenburg).

Ich selbst kenne Reuters Werke seit meiner Teenager-Zeit (als die Teenie-Mädchen noch Backfische genannt wurden!). Mein Vater hat uns den ganzen langen Harz-Winter durch Reuters Werke vorgelesen…

Den Bräsig-Spruch habe ich immer so wahrgenommen, dass jemand etwas, das er auch nicht versteht, mit einem Fremdwort erklärt, das NICHTS erklärt, sozusagen die Anmaßung von in Wirklichkeit nicht vorhandenen Kenntnissen und Bildung – für die er dann noch große Bewunderung bei seinen Zuhörern erntet.

Um zu entscheiden, was Fritz Reuter nun wirklich gemeint haben könnte, habe ich nach Jahrzehnten mal wieder den Original-Text in der Werkausgabe aufgeschlagen, aus der mein Vater schon vorgelesen hat (Fraktur-Schrift, sehr eng gedruckt – Hempels Klassiker-Ausgabe).

Schon das Auffinden des Textes war ziemlich zeitintensiv, da die Stelle in den Aphorismen-Zitaten meist nicht genau mit Band und Kapitel zitiert wird (und oft auch falsch wiedergegeben wird…).

Ich habe dann das ganze Kapitel erneut gelesen und will gleich sagen, dass auch das Textstudium mir keine völlig eindeutige Entscheidung über die Bedeutung des Reuter-Zitates gebracht hat: vordergründig bestätigt sich zunächst in der direkten Handlung meine o.g. Erinnerung (Pseudo-Erklärung der Armut durch das französische Wort für Armut „poverté“), weil der Bräsig es eben auch nicht weiß… Das schließt aber nicht aus, dass der Autor Fritz Reuter selbst (feinsinnig-hintersinnig wie er ist!) mit der Erzählung eben doch genau das sagen wollte: Armut gebiert immer neue Armut, wenn man nichts gegen die Ursachen tut!

Allerdings prangert die Reutersche Erzählung einen Umstand aus der Zeit von 1848 (das Jahr, in dem die Erzählung spielt) ganz deutlich an: eigentlich sollte es auf Grund der arbeitsrechtlichen Verhältnisse der Tagelöhner in Mecklenburg auf dem Land keine Armut geben – wenn das Arbeitsrecht von den Gutsherren respektiert worden wäre. Er schildert dort sehr drastisch (in Form einer Rede des Inspektor Bräsig) dass der Rittergutsbesitzer „Pomuchelskop“ dieses Recht der Tagelöhner mit Füßen tritt und dass es deswegen eben doch bittere Armut auf dem Land gab, obwohl gerade die Landwirtschaft in normalen Zeiten tatsächlich in der Lage gewesen wäre, alle dort lebenden Menschen gut zu ernähren.

Diesen damaligen Verhältnissen verdanken wir vermutlich auch die Bezeichnung „nach Gutsherrenart“ – mit der der willkürliche Umgang mit dem Recht (vor allem im sozialen Bereich) gemeint ist.

Aber über die Ursachen der Armut in der Stadt, liefert Inspekor Bräsig hier bei Fritz Reuter keine tieferen Erkenntnisse.

Noch ein Nachtrag: Ja – seit neuestem nehme ich die Obdachlosenzeitung („Motz“) immer mit, wenn ich den Verkäufern eine Spende gebe!

Bild des Tages: Diesen wunderbaren Fußboden in der Berliner Gedächtniskirche werden die wenigsten Besucher bei Tag wahrnehmen, da das durch die Kirchenfenster blau gefilterte Tageslicht das Mosaik fast unsichtbar macht. Mir hat es der elektronische Sucher meiner Kamera sichtbar gemacht.

GedächtniskircheBoden

Herbert Börger, Berlin, 01. November 2017