Deutschland – ein Wintermärchen
Es war einmal eine weise Königin. Die regierte ihr Land schon lange und hatte es gut getroffen: denn in ihrem Lande war schon vor vielen Jahrzehnten eine Seuche aufgebrochen, die die Menschen nicht im Geringsten in ihrer Kraft und Leistung beeinträchtigte sondern ausschließlich auf ihre Gedanken wirkte: die Untertanen der Königin hatten eine große, verstörende Angst vor Veränderungen und damit waren sie auch in Bezug auf die Zukunft eher ängstlich, denn alle Veränderungen liegen ja bekanntlich dort …
Ganz großartig fanden die Untertanen der Königin aber die Vergangenheit – die machte ihnen überhaupt keine Angst. Sie hegten und pflegten die alte Kultur ihrer Vorfahren und in keinem Land der Welt gab es mehr Museen, Konzertsäle und Theater.
Es war üblich, dass die Städte, die nach dem letzten großen Krieg sehr stark beschädigt waren, möglichst historisch oder altertümlich rekonstruiert wurden – manchmal sogar in einem älteren Stil als in dem direkt vor der letzten Zerstörung! Als sie plötzlich feststellten, dass es in ihrer Hauptstadt gar kein Schloß mehr gab (der Königin war sowas nämlich egal!) wurden die Bürger furchtbar aufgeregt, kramten ihre Ersparnisse hervor und ließen sich das Schloss genauso wieder aufbauen, wie es vor 300 Jahren gewesen war.
Damit niemand auf die Idee kann, dass sie den alten Kaiser wieder haben wollten (der hatte nämlich keinen so guten Ruf! Der hatte das mit den Kolonien versemmelt!) nannten sie das neugebaute Schloß nach einem berühmten Aufklärer aus diesem Lande – ohne allerdings nachzudenken, was der wohl heute anstatt dessen gemacht hätte und ob der solch ein Denkmal haben wollte…
Weil die weise Königin den Menschen versprach, dass sie gut auf sie aufpassen würde, waren die Menschen zufrieden und lobten die Königin.
Obwohl das alles so wunderschön war, ist es leider nicht so geblieben, denn – das lehrt uns die Geschichte – es gibt immer irgendwelche Unzufriedenen, denen auch das Gute nicht gut genug ist und die damit alles kaputt machen!
Da war eine kleine aber plötzlich sehr laute Gruppe, die hatte besonders viel Angst! Die sagte: „Ihr habt uns belogen – es hat sich doch etwas verändert und wir wollen, dass das wieder rückgängig gemacht wird. Wir wollen alles so haben wie früher, da haben wir uns viel wichtiger gefühlt – jetzt kommen lauter fremde Leute in das Land und die werden wichtiger genommen wie wir. Wir finden aber, dass wir die wichtigsten Menschen sind und wollen alles wieder wie früher haben!“ Die Anführer dieser Gruppe waren von der Angst-Seuche ganz besonders stark befallen und hatten es sich zur Aufgabe gemacht, allen anderen auch in ihrer Angst zu bestärken.
Das war ein bißchen mehr als ein Zehntel der Menschen und die waren ziemlich laut und ungehobelt – sie forderten sogar, dass die Königin weg sollte!
Die andere Gruppe bestand aus Leuten, die sagten: „Man muß nicht Angst vor Veränderungen haben sondern davor, dass sich nicht genug verändert! Wenn wir immer so bleiben, wie wir sind, werden wir erstarren, verschimmeln und vermodern!“ Die waren vor allem gebildet und nicht so laut, weshalb man sie schlechter hören konnte. Die Zahl dieser Unzufriedenen war eigentlich viel größer – mehr als drei mal so groß!
Aber diese Gruppe war aufgespalten in mehrere kleinere Grüppchen, die sich gegenseitig nicht ausstehen konnten. Wenn einer sagte: „Das ist rot!“ dann sagte der andere „Nein, das ist grün!“ und der dritte sagte „Das ist gelb!“ und noch einer sagte: „Das ist noch viel röter als rot!“
Die waren der Königin auch böse – aber sie hatten ein ganz großes Problem: sie hatten sehr viel Angst vor den lauten und ungehobelten Menschen, die alles wieder wie ganz früher haben wollten.
Alle Unzufriedenen zusammen waren viel mehr als die Zufriedenen, die die Königin immer noch priesen – aber es nützte ihnen nichts, weil sie sich miteinander stritten und nicht mit der Königin stritten.
Dadurch wird die Königin immer weiter weise, zufrieden und ruhig ihr Land regieren können, obwohl sie bald gar keine zufriedenen Untertanen mehr haben wird – aber die haben ja eben doch am meisten Angst vor Veränderungen – und vor den anderen Farben ihrer Konkurrenten.
Es ist Winter und alles ist vom eisigen Reif der Angst und Unzufriedenheit überzogen und die Deutschen ziehen sich ihre Bettdecke bis an die Nasenspitze, damit es ja nicht ungemütlich wird!
Und so wird die weise Königin bis in alle Zukunft weiter regieren!
Herbert Börger
© Der Brandenburger Tor, Berlin, 22. Januar 2018