Das fängt ja gut an – 255 – Offener Brief an Dieter Nuhr (Alice Salomon Hochschule (4))

Brief an Herrn Nuhr

Betr.: Alice Salomon Hochschule – Avenidas

Lieber Herr Nuhr!

Ich komme zurück auf die letzte Sendung von „Nuhr im Ersten“. Das ist doch schön, oder? Jetzt wissen Sie definitiv, dass es wenigstens einer gesehen hat – ja, und meine Frau hat es auch gesehen… also schon zwei!

Wir sind „old-school“-Kabarett-Konsumenten… wir haben die „Insulaner“ noch im Radio gehört und sind zum Ruhestand extra nach Berlin gezogen, um uns mal „zufällig mitten aufm Kurfürsten Damm zu treffen“. Und meine Frau hadert heute noch damit, dass sie bei Dieter Hildebrandt (MLuSG) im Aegi-Theater in Hannover eingeschlafen ist, weil wir sie vorher den ganzen Tag über die Luftfahrtschau geschleift hatten…. das muss 1969 gewesen sein. Aber ich schweife ab!

Was mich bekümmert ist, dass auch mit der schier unfassbaren Masse der derzeitigen Kabarett- & Comedy-Welle die Welt nicht besser wird, aber sogar manche Staaten extra Kabarett-kompatible Präsidenten einstellen, damit das Land auch ja 365 Tage im Jahr „on air“ ist! (Ich geb zu, dass mir da die USA vorschwebten, aber Türkei und Polen holen kräftig auf…)

Was wollte ich noch? Ach ja ihre letzte Sendung. Und ja: der Anlass ist ERNST:

Ich sah sofort, was jetzt kommen würde: das Bild von der ASH-Fassade taucht auf – mit dem Gedicht Avenidas.

Alle – aber auch alle haben es schon gebracht: nachdem alle regionalen und überregionalen Medien es seit Monaten durch hatten (überregional durch die FAZ am 29.8.2017 losgetreten), kulturelle Institutionen mit hoher Autorität auf die ASH eingedroschen haben (PEN, Grütters) rollte die Nummer nun durch alle kabarettistischen Sendeplätze (Welke – Ehring …) und jetzt ganz zum Schluß auch noch NUHR! Und alle haben ganz offensichtlich NICHT wirklich selbst recherchiert – nur nachgeplappert was alle-alle als Urteil gefällt haben: „doofe Studentinnen maßen sich das Urteil des Sexismus gegen hohe Kunst und unverdächtige Lyrik an“.

Und jetzt Dieter Nuhr! Der hoch-geschätzte originelle – der die Dinge oft aus einem neuen Blickwinkel betrachtet. Wird er originell sein? Hat ER recherchiert?

Die Antwort: NEIN!

Ich hörte es schon daran, wie sie den Namen „Alice Salomon Hochschule“ zelebriert haben – hier wird ein scharfrichterliches Urteil a la Nuhr folgen. Und sie machten kurzen Prozess. Wissen Sie, wie viele „Nachdichtungen“ der „Avenidas“ es aus diesem Anlass schon gegeben hat? – und ihre war echt nicht die witzigste…. Und Sie setzen noch eins drauf und bringen den Zusammenhang mit #MeeToo ! Das Begehren des ASH-ASTA ist aber vom Frühjahr 2016! Kurz: ich war sehr-sehr enttäuscht.

Da sitzt nun Herr Nuhr, der Scharfsinnige, der Anti-Mainstream-Nuhr auf einem Ross mit Bild-Zeitung, PEN-Vorsitzendem (Zensur!), Monika Grütters (Freiheit-der-Kunst!) und hinter all den Nachbetern ganz hinten noch er – als vorläufig letzter… Nuhr als Epigone von Bildzeitung und Grütters… ich fasse es nicht.

Ja, die Bild-Zeitung sitzt ganz vorne auf dem Ross mit einer Meisterleistung der Recherchen-Kunst, nachdem die FAZ schon wunderbar vorgelegt hatte: durch ein Interview des Rektors der Hochschule (was so ist wie: Hans hat eine Fensterscheibe eingeschmissen – die nicht betroffene Nachbarin geht zu Hans‘ Eltern und fragt die, warum Hans das wohl getan hat? Der ASTA der ASH wurde nicht gefragt.) Der Rektor war derjenige, der (meines Wissens) ohne demokratischen Prozess das Gedicht an die Fassade gebracht hat.

Die Informationen, die ein objektiveres Bild der Sache ermöglichen, sind alle seit Oktober 2017 leicht zugänglich. Kurz nachdem am 28.08.17 der Shit-Storm gegen die ASH losbrach, hatte die ASH eine umfangreiche und detaillierte Dokumentation aller Publikationen im Zusammenhang mit dem Thema angelegt – und es erschien eine ausführliche und kluge Stellungnahme der Prorektorin der ASH, in der klargestellt wird, dass der ASTA dem Gedicht keinen Sexismus vorwirft.

Wissen Sie, was meine eigene Reaktion am 30.8.17 war, als ich von der Causa aus der Berliner Zeitung erfuhr? Ich dacht: „Geht’s noch? Das ist doch bestimmt eine <Trigger Warning>-Forderung unserer verzärtelten Hochschuljugend.“ Das Gedicht „Avenidas“ fand und finde ich sehr schön als solches. Und ich habe in die Tiefe gehend recherchiert, weil Trigger Warnigs ein Thema ist, das mich sehr berührt – und dies nun vor meiner Haustür! Dann habe ich das Thema eine Weile sacken lassen.

Mein Recherchen-Ergebnis: keine Trigger-Warnings, keine überzogene Political Correctness, keine Zensur, keine bedrohte Freiheit der Kunst… Es geht hier um einen KONTEXT.

Dazu habe ich in meinem Blog einen ersten Text veröffentlicht

Das fängt ja gut an – 306 – Alice Salomon Hochschule (1)

Nachdem das Ergebnis des internen demokratischen Prozesses in der ASH vorlag einen zweiten Text:

Das fängt ja gut an – 274 – Alice Salomon Hochschule (3)

Hiermit folgt nun meine dritte Stellungnahme in meinem Blog – dies ist ein offener Brief an Sie.

Falls Sie keine Lust haben, die Texte in meinem Blog zu lesen – hier eine Kurzfassung:

Um die Studierenden in der ASH zu verstehen, muss man sich in ihre Lage in die Hochschule hinein versetzen! Dort lernen sie um später überwiegend als Lehrer und Erzieher in der Gesellschaft eine wichtig Funktion auszuüben – und das kann ein tougher Job sein…. Die Studentinnen sehen sich nicht als die „Blumen“ und die auf dem Boulevard flanierenden Frauen, die dort gehen, um bewundert zu werden (was an sich in Ordnung gehen würde). Sie werden aus der ASH raus gehen und hoffen, dass sie da draussen respektiert werden für das, was sie individuell TUN, nicht als das was sie anonym SIND. Ihre Meinung ist: Das Gedicht aus dem Jahr 1951 eines heute 94-jährigen Dichters  passt im Kontext nicht an dieses Haus.

Nur durch den Perspektiv-Wechsel kann man dies erkennen. Das habe ich versucht und frage mich, warum NIEMAND sonst sich diese Mühe gemacht hat (Frau Grütters zum Beispiel hat ihren Amtssitz fast vor den Toren der Hochschule).

Nach all dem war ich zu der Meinung gelangt, dass das Begehren des ASH-ASTA legitim ist und ja auch demokratisch bestätigt wurde.

Sie haben hier mit einfachsten Mitteln Ihren Vorteil gesucht und geholfen, dem Ruf der ASH zu schaden.

Ich würde mich freuen, wenn ich Sie davon überzeugen konnte, dass Sie hier falsch lagen….

Ich finde wohlmeinende Bürger sollten sich überlegen, wie der Schaden repariert werden kann.

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 16. Februar 2018

 

 

Das fängt ja gut an – 274 – Alice Salomon Hochschule (3)

Update zu ASH-Fassade mit Eugen-Gomringer-Gedicht

Wo bleibt der Respekt – die Zweite…

Nach der Mitteilung über das Abstimmungsergebnis an der Alice-Salomon-Hochschule war ich bereits auf die öffentliche Reaktion eingegangen – am Tag danach kamen noch Leserbriefe zum Thema in der Tagespresse dazu – mit höchstens ein oder zwei Stimmen, die sich nicht dem ASH-Bashing anschlossen.
Ich komme mir vor wie jener Autofahrer, dem hunderte Falschfahrer entgegen kommen:
aus meiner Sicht werden derzeit 95% der Beiträge – einschließlich der redaktionellen Tagespresse-Artikel – dem Thema nicht gerecht.
Die Sach-Debatte ist untergegangen – es werden nur noch Meinungen präsentiert: neben Sexismus-Genderismus-Klischee-Schlagworten (und staatstragenden Freiheit-der-Kunst-Statements!) wurden die Positionen der Studierenden nirgendwo mehr sachlich gewürdigt… (Nicht einmal der Versuch dazu gewagt!)
Anscheinend hatte kaum jemand die kluge Stellungnahme der Prorektorin Völter gelesen.
Ich beschäftige mich seit 30.8.2017 damit – und habe in zwei Stufen darüber Meinungen in meinem Blog veröffentlicht.
Stets habe ich vorher die Argumente von allen Seiten erst geprüft und das Thema „sich setzen lassen“. Im ersten Impuls stand ich nämlich auch auf der Seite der ASH-Kritiker.
Die aufgeregte Schnell-Schlagabtausch-Debatte macht den Eindruck, als ginge hier gleich das Abendland unter. Ist Toleranz in unserem Lande schon wieder Mangelware geworden?
Machen die teilweise radikalen Leserbrief-Reaktionen – bis zum Aufruf zur Sachbeschädigung durch Sprayen auf der Fassade! – nicht nachdenklich?  Bürger betrachten die Studierenden der ASH als Political-Correctness-Monster, deren zukünftige Schüler „Opfer“ dieser Lehrenden sein werden.
Witzig ist dann aber, dass gegen die Hochschule der Vorwurf des vorauseilenden Gehorsams gegenüber den Herrschenden erhoben wurde: da scheint man in der ASH aber in die falsche Richtung vorausgeeilt zu sein (Ironie!), da sich bisher ja alle Vertreter des „herrschenden Systems“ am ASH-Bashing beteiligt haben (Fakt!).
Da sich ja auch die Tochter des Dichters so besorgt für dessen Rechte eingesetzt hat, möchte ich noch einmal daran erinnern, dass niemand das Gedicht „Avenidas“ verbieten wollte oder den Ruf des Dichters schädigt. Lassen Sie die Sache mal endlich zur Ruhe  kommen – dann werden Sie wahrscheinlich feststellen, dass durch den Vorgang die Bekanntheit des Dichters und des Gedichtes international extrem gestiegen ist – und Nora Gomringer nutzt den Vorgang phantasievoll dazu, dem noch ein „Sahnehäubchen“ aufzusetzen.
Liebe ASH: mit meinen geistigen Mitteln werde ich Ihnen weiter gegen die „geistige Enteignung“ Ihrer Fassade zur Seite stehen.

Herbert Börger

P.S.: Genauso würde ich jedem Künstler beitreten, dessen Schaffen WIRKLICH beschädigt oder verboten würde, was hier nicht der Fall ist.

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 27. Januar 2018

 

 

 

Das fängt ja gut an – 275 – Alice Salomon Hochschule (2)

Gomringer-Fassaden-Gedicht (ASH)

Politische Korrektheit? – Sexismus? – Trigger Warnings?

Darauf hatte ich gewartet: Die Alice-Salomon-Hochschule hat demokratisch entschieden, wie es mit dem Gedicht von Eugen Gomringer an der Fassade weiter geht.

Vorgestern kam die Entscheidung: Das Gedicht wird übermalt – die ohnehin fällige Renovierung wird dazu benutzt, ein neues Gedicht einer ASH-Lyrik-Preisträgerin daran anzubringen (Text noch nicht bekannt) – und danach im 5-Jahres-Turnus wieder.

Und ich habe bewusst zwei Tage abgewartet: wie erwartet, hat sich mittlerweile fast JEDER schon dazu geäußert (inclusive. Berliner Kultur-Senator Lederer, BRD-Kultur-Staatsministerin Grütters, Tochter Nora Gomringer, … und viele-viele mehr: im Grunde ein kleines Shit-Störmchen gegen den Beschluss der Hochschule ).

Ich war tatsächlich überrascht, dass sich in den für mich bisher sichtbaren Kommentaren zu 100% Kritik an der ASH-Entscheidung findet – die Vorwürfe reichen von Zensur über Populismus und übertriebene Politische Korrektheit zu unterstelltem Sexismus-Vorwurf gegen das Gedicht!

Ich finde, das ist starker Tobak!

Wo bleibt hier der Respekt? Respekt vor der demokratischen Entscheidung sehr vieler junger Leute (ca. 3.700 StudentInnen) und dem Personal der Hochschule! Diese Jungen Leute werden überwiegend im Erziehungs- und Bildungs-Bereich unseres Landes berufstätig werden. Sie haben einen langen, mühsamen, legitimen demokratischen Prozess durchlaufen, nachdem sie sich zuvor kritisch mit einem Kunstwerk im Lichte gesellschaftlicher Verhältnisse befasst haben.

Wo bleibt die Toleranz?

Die öffentliche Reaktion ist in meinen Augen völlig unangemessen in Form und  überheblich im Ton: selbst höchste kulturelle Repräsentanten von Bund und Land trompeten sofort ihre (persönliche) Meinung hinaus, ohne auf die Argumente der Betroffenen auch nur im Ansatz einzugehen. Das Niveau der Argumente läßt vermuten, dass hier mindestens der Untergang des Abendlandes eingeläutet wurde! Frau Grütters haut den Studenten das Grundgesetz um die Ohren (Freiheit der Kunst!) – und bekommt sofort die FAZ dafür als Forum. Liebe Frau Grütters: das ist völlig unangebrachtes und unsensibles Herrschaft-Gehabe gegenüber jungen Menschen, die dabei sind ihren Weg in der Gesellschaft zu finden. Selbst wenn Sie sachlich im Recht wären – so entspricht Ihr Verhalten dem Schießen mit staatlichen Kanonen auf Spatzen, die gerade flügge werden. Wenn Sie in der Sache so besorgt sind: warum haben Sie sich nicht erst mal einen Gesprächstermin mit den Vertretern der Hochschule besorgt, um die andere Seite angemessen zu Wort kommen zu lassen – ehe Sie Ihren geradezu . Haben sie etwa nicht die sehr klugen Erläuterungen von Frau Völter zu dem Vorgang gelesen?

Es handelt sich um eine „Innere Angelegenheit“ der Hochschule – auch wenn sich das Gedicht an einer Außenfassade der Hochschule befindet. Genau das ist auch ein Kern-Aspekt der Angelegenheit: mit dieser Fassade „spricht“ die Hochschule zur Außenwelt! (Aber diese Außenwelt hat kein Recht ihrerseits mitzusprechen – hat sie allerdings seit Monaten sehr heftig getan!)

am 25.12.2017 habe ich dazu schließlich diesen Beitrag in meinem Blog verfasst:

Das fängt ja gut an – 306 – Alice Salomon Hochschule (1)

Am Schluss meiner (kritischen) Auseinandersetzung mit dem Thema schrieb ich:

„Im Falle der Causa „Gomringer-Gedicht“ gilt nach meinem heutigen Recherchen-Stand Entwarnung bezüglich Trigger Warnings: dieser Vorgang gehört in den Bereich normaler und gerechtfertigter Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Verhältnissen – unabhängig davon, ob man der Meinung der Studentinnen ist – oder nicht.“

Meine eigene Haltung zu dem Gedicht von Eugen Gomringer war und ist:

Ich finde das Gedicht sehr schön; ich finde es (aus meiner Perspektive als Mann, 72 Jahre) nicht offensiv oder verdeckt sexistisch.

Mein erster Impuls Ende August 2017, als die Causa hoch-kochte war spontan ein Anschluß an die herrschende Kritik gegen den AStA der ASH – aber auch schon Unverständnis bezüglich des PEN-Club-Vorwurfes der Zensur (sorry: das ist einfach Quatsch!).

Dann ging ich den Argumenten und Begründungen der Hochschule nach (Erklärung von Prof.Dr. Völter!) – und ließ das ganze fas 2 Monate sacken – da ich mich aber gerade permanent mit dem Thema der „Trigger Warnings“ beschäftige, kam ich immer wieder zum Fall zurück.

Dann habe ich mich mehr in die StudentInnen versetzt und habe dann – die oben schon angedeutet – festgestellt: das ist „ihre“ Schul-Fassade, die mit dem Gedicht nach außen spricht – in die Gesellschaft hinein, in der sie sich später einbringen wollen. Erst dann habe ich den Konflikt erkannt: ja, das Gedicht ist ein lyrisches Zeugnis einer früheren gesellschaftlichen Epoche (1951) bezüglich der Rolle der Frau – und ja: das ist nicht die Rolle der jungen Menschen die da hinaus gehen wollen!

Probieren sie das mal aus ! – vielleicht gelingt es Ihnen dann auch, Verständnis für den Vorgang aufzubringen – ganz abseits von Zensur-Genderismus-PoliticalCorrectness-Debatte und Getöse…

Herbert Börger

P.S.: Die kluge Lösung, dass jetzt im 5-jährlichen Turnus ein Preisträger-Gedicht an die Fassade kommt, vermeidet auch jegliche Diskriminierung von Eugen Gomringer!

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 26. Januar 2018