Bücher allein in fremden Wohnungen

Geschichten über Bücher und andere angeblich tote Gegenstände

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Ich fand den Aufenthalt in fremden Wohnungen schon immer irgendwie aufregend – wohlgemerkt, wenn man sich dort alleine aufhält, ohne den Wohnungseigner..

Die ersten Male, wenn man das erfährt – vielleicht weil man beim Nachbarn die Blumen in dessen Urlaub gießt oder die Katze füttert – ist da eine starke Befangenheit, fast ein Kribbeln. Man bewegt sich nahe am Bruch eines Tabus, aber legitim – im Allerheiligsten, dem „Castle“ eines anderen Menschen.

Die Befangenheit kommt auch daher, dass man die Aura des Wohnungseigners innerhalb dessen vier eigenen Wänden gewissermaßen zu spüren meint.

Das hat mich immer veranlasst, die vereinbarten Hilfsdienste auf kürzestem Wege zu erledigen – ohne unnötiges Herumschweifen in diesem fremden Lebensraum, was isch als Verletzung einer Intimsphäre empfand. An der Entdeckung verstümmelter Leichen in Tiefkühltruhen bin ich nicht im geringsten interessiert.

Mit einer einzigen Ausnahme: offene Bücherregale ziehen mich unwiderstehlich an!

Das ist wie eine Sucht. Die Buchrücken durchzuschauen – natürlich ist auch dies eine unbestreitbare Form der Indiskretion. Obwohl es sicher sehr leichtfertig wäre, daraus allzu sichere Rückschlüsse auf den Wohnungseigentümer ziehen zu wollen.

Sind die Bücher ererbt, die Titel nicht selbst zusammengestellt? Reste einer früheren Lebensgemeinschaft? Hat der Bewohner sie überhaupt gelesen?

Über zwei bemerkenswerte Begegnungen mit Büchern in dieser Situation möchte ich hier berichten.

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Da war ein Buch, das ich in der Wohnung meines Sohnes in Berlin auf dem Schreibtisch liegen sah – und natürlich sofort darin zu lesen begann:

Max Goldt : Der Karpfen auf dem Sims. (22 Prosatexte)

Ich schlage es auf: die erste Geschichte heißt „Mein Nachbar und der Zynismus“. Ich suche das Inhaltsverzeichnis auf: auch da finde ich keine Geschichte über den Karpfen auf dem Sims… Aha – toller Marketing-Gag, jetzt muss ich, selbst wenn mir die erste Geschichte nicht gefallen sollte, alle „Prosatexte“ lesen, wenn ich erfahren will, wie der Karpfen auf den Sims kommt oder was er da macht oder ob der Sims etwa innerhalb oder außerhalb eines Gebäudes ist oder ob der SIMS eigentlich etwas ganz Anderes, Neu-Angesagtes ist, so wie SMS oder ein Sams mit einer Email-Adresse!

Ich lese trotzdem die erste Geschichte. Dann schlage ich das Buch zu und stelle fest: das Buch hat seinen Titel verändert ! – es heißt jetzt:

„Der Krapfen auf dem Sims“ (immer noch 22 Prosatexte – aber auch ein Krapfen ist im Inhaltsverzeichnis nicht zu finden…)

Auf dem Titelbild ist eine sitzende Katze abgebildet (so eine Nordafrikanische mit großen dünnen Ohren und schmalem Gesicht…) Ihr Gesichtsausdruck ist undurchdringlich. Hat sie den Karpfen gefressen? Wie ist sie auf den Sims gekommen? Wer wird nun aber den Krapfen essen?

Die Katze wird es sicher nicht preisgeben.

Sonst hat sich anscheinend nichts verändert.

Aber vielleicht muss ich jetzt die Geschichte noch mal lesen und werde feststellen, dass sie jetzt ganz anders geht – oder anders endet.

Vielleicht werde ich dann nie mehr ein anderes Buch lesen können, weil die Geschichten in dem Buch, und dessen Titel, sich ständig ändern, wenn ich eine davon gelesen habe.

Das ist ein Verhalten der Wirklichkeit, das einem Physiker nicht wirklich fremd ist. Eine Literatur-Unschärferelation…

Der Untertitel wäre dann aber irreführend: es wären dann eigentlich unendlich viele Geschichten! Ein Anschlag auf mein zukünftiges Leben und auf die Buchindustrie: denn ich würde nie mehr ein anderes Buch brauchen … so wie es mal vor über 400 Jahren mit der Bibel war… Buch der Bücher…

Nur wenn das Buch durch das viele Lesen schließlich zerfallen wäre, müsste ich es wieder neu kaufen, wenn das überhaupt möglich wäre, da ja dann keiner mehr weiß, wie der Titel wirklich lautet. Vielleicht ist es aber auch egal, welchen Titel ich kaufe – alle Bücher sind sowieso immer nur dasselbe eine Buch mit unendlich vielen Geschichten….?

Mir wird schwindlig und ich lege das Buch zurück auf den Tisch. Dabei fällt mir auf, dass der untere Seitenanschnitt des Buches einen Stempelabdruck trägt:

„Preisred. Mängel-Exemplar“.

Aha!

(3)

Dem geerbten Kleiderschrank fehlt ein Fuß, der durch einen Stapel von Büchern ersetzt wird.

Ich nehme eines der Bücher aus den Stapel: der Kleiderschrank neigt sich sofort bedrohlich, als sei er von dem Wohnungsbesitzer mit der Rache gegen einen eventuellen Bücherdieb beauftragt, was er sehr ernst zu nehmen scheint!

Der Titel lautete: „Simplify your Life!“ Ich kannte das Buch schon…

Ich habe diesen Titel ursprünglich als Bedrohung empfunden (etwa wie: Erschießen Sie den Pianisten!) – bis ich hineingelesen hatte….

…und es bald wutschnaubend in die Ecke feuerte – wieder mal so eine tragisch-absichtliche Lesertäuschung durch den Verlag. Der Autor hatte es sicher mit dem ehrlich gemeinten Titel „Simplify my life!“ eingereicht: gemeint als aufrichtige Aufforderung an die potentiellen Käufer des Buches, für den Lebensunterhalt des Autors zu sorgen…!

Ein Zettel steckte in diesem Schrankstützen-Exemplar auf Seite 15 (soweit bin ich darin nie gekommen).

Auf dem Zettel stand:

– Butter

– Milch

– Zwieback

– Oliven

Es scheint, dass die Zettel in den Büchern mehr über den Wohnungsbesitzer aussagen als die Bücher selbst!

(Ich darf nicht vergessen, den Wohnungsbesitzer nach dem Rezept zu fragen – interessant!)

Copyright 2007, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger