Bücher finden und lesen

(Über die Bedeutung von Bücherschränken und Dachböden für ein Nachkriegs-Kind.)

Die Situation des Lesens ist hochgradig intim. Apostrophiert durch zwei Buchdeckel – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – leben Autor und Leser eine Weile im Blickkontakt und die Gedanken und Bilder zweier Menschen verweben sich miteinander auf unvorhersehbare und einmalige Weise.

Seltsamer Einfluss von Äußerlichkeiten und Haptischem auf das Lesegefühl: Deckelgestaltung, Schnitt, Papiergriff oder wie sich das Lesebändchen anfühlt – so es  das gibt…

Nicht nur, dass unterschiedliche Bilder und Welten aufsteigen, wenn jeweils zwei Menschen „Die Leiden des jungen Werther“ lesen… Selbst wenn ich dasselbe Buch vier Mal mit Jahren oder Jahrzehnten Abstand lese – entsteht jedes mal eine andere Welt im Kopf!

„Du schlägst nie zweimal dasselbe Buch auf!“

Das Verhältnis von Leser und Autor ist während dieser Begegnung, die prosaisch „Lesen“ genannt wird, so persönlich, dass es noch nicht einmal die Etikette verletzen kann, wenn der Leser auf dem Klo sitzt! Und Du, lieber Leser, hast keine Ahnung, wo ich dies gerade schreibe… lassen wir das.

Als Kind habe ich jedes Buch als etwas Mystisches empfunden – zumal jedes Buch, gemessen an meiner gerade erworbenen Lesegeschwindigkeit, eine unendliche Geschichte zu sein schien… Die Bücher meines Erfahrungshorizontes waren allerdings auch danach: nein, keine Bibeln!

Diese Bücher waren zumeist alt und standen im Bücherschrank meines Vaters, der sie auch schon alt gekauft hatte (oder ihnen „Asyl“ gegeben hatte – und „vergessen“ sie zurückzugeben…).

Und sie standen nicht willfährig in offenen, Staub anziehenden Regalen, sondern hinter Türen – mit Schlössern darin!

Und wenn man sie herausnahm und aufschlug, fand man unverständliche (oder gar unlesbare, da sütterlinsche) handschriftliche Einträge auf einem der säurevergilbten Vorsatzblätter – da steht etwa: „Gerda Beute, 1929“ in der Chronik der Sperlingsgasse (162. Auflage). Gruß an Gerda!

Bücher haben keine Beine und keine Flügel – allenfalls schwimmen könnten sie, was dem anschließenden Zwecke des Gelesenwerdens allerdings nicht besonders zuträglich ist. Sicher haben Bücher aber eine Seele. Deshalb brennen sie gut – und wenn sie keine Seele hätten, wäre es sinnlos, Bücher zu verbrennen… jedenfalls aus der Sicht der Brandstifter.

Was eine Seele hat – aber keine Beine – das will gefunden werden.

Und deshalb ist oder war das Finden der Bücher ein Mythos an sich… bevor man sich entschlossen hat, sie einfach „on-line“ zu bestellen.

Aber davor wurden die Bücher, die nicht im Bücherschrank meines Vaters standen, auf Dachböden  bei Großeltern und Tanten gefunden. (Wieso schreibe ich „Tanten“? Tatsächlich: es gab keine Onkel! Schicksal der ersten Weltkrieg-2-Nachkriegsgeneration… Allerdings – doch: einen Onkel gab es – damals wohl jünger als ich heute bin. War Kumpel gewesen im Harzer Bergbau und saß immer mit einer Decke über den Knien da und siechte (daher kein Soldat geworden) letal an der Staublunge dahin – ketten-rauchend in einem Luftkurort!

Diese „Dachbodenbücher“ waren das mystischste überhaupt.

Sicher ist Michael Endes Erfolg mit der „Unendlichen Geschichte“ auch mit der Auftakt- und Rahmenhandlung des Dachboden-Fundbuches zu verbinden – ein Schlüsselreiz für unsere Generation, und Bücher kommen zunächst schließlich durch die Hände von Erwachsenen in Kinderhände!

Man muss sich wirklich Gedanken über seine Enkel machen.

Welche Chance – verglichen mit einem seit Jahrzehnten fast unberührten Dachboden – hat man beim Surfen im Internet? Bleibt schließlich nur der „Dachbodenfund“ bei Ebay? Aber den bekommt man ohne den Dachboden geliefert – und ohne das „Finde-Erlebnis“…

Mindestens genauso prägend und mystisch wie der „Fund“ an sich waren da doch die Gerüche und visuellen Reize: ein schmaler Lichtstreifen hat den Weg zwischen zwei Dachpfannen ins Halbdunkel gefunden und lässt Myriaden von Staubpartikeln wie Spiralnebel kreisen – im Dachboden eines Fachwerkhauses, das unmittelbar nach dem 30-jährigen Krieg gebaut wurde …

Welches Kribbeln in der Magengrube!

Dort fand sich auch ein praktikabler Heimkurs für das Schreibmaschine-Schreiben… und praktischer weise stand die uralte aber intakte Remington direkt daneben! Diesem Umstand verdanke ich die Fähigkeit des 10-Finger Blindschreibens seit meiner Jugend.

Ein riesiger Stapel von Lore-Romanen sichert vierzehn Ferientage, abgetaucht in Trivial-Literatur. Danach hatte man nie wieder ein Defizit auf diesem Gebiet! Abgehakt!

Ein wundersamer Weise dort Jahrzehnte überdauerter, mehrere Stapel umfassender Bestand an Lichtfreunde-, FKK- und Erotik-Heften der Elterngeneration (schwarz-weiss-Fotos!) half wieder andere Defizite überwinden.

Hier fand und verschlang ich die ersten deutschen „Zukunfts-Romane“ von Hans Dominik, die schon damals keiner mehr kannte!

Das Chemielabor meines Vaters stand noch so eingerichtet da, wie der es zuletzt mit 17 oder 18 benutzt hatte.

Und dann der Sensationsfund: ein Weltkrieg-2-Stahlhelm, durchschlagen von einem Geschoss! Dieser erweist sich bei seinem Vorzeigen als Schlüssel zu bisher unerhörten Erzählungen des Vaters. Er hatte diese zertrümmerte, jetzt nutzlose Schutzausrüstung „aus dem Felde“ durch die Gefangenschaft bis nach Hause geschleppt, weil er damals nur deshalb noch lebte, weil er ihn nicht auf dem Kopf hatte, sondern am Koppel hängend, weshalb Kugel oder Granatsplitter ihm nicht die Gedärme durchfurchen konnte.

Aber zu schnell versiegte dieser Geschichten-Quell wieder. Die Kerle wollten oder konnten nichts vom Krieg (und der Nazi-Herrschaft) erzählen. Auch nicht der Vater-Großvater, der noch als Hufschmied dem Kaiser im 1. Waltkrieg „diente“, und für dieses Gewerbe an dessen Ende mit 43 Jahren schon alt war.

Nehmen wir einmal an, dass sie entweder uns oder sich selbst durch das Nicht-Erzählen schützen wollten … vermutlich doch eher sich selbst. Später hätte ich die Mauer des Schweigens sicher noch hartnäckig zu durchbrechen versucht – aber diese Chance wurde durch den frühen Tod des Vaters zunichte gemacht.

In meiner Kindheit und Jugend gab es nur zwei Gattungen überlebender Kriegsteilnehmer: diese Schweiger, zu denen Vater und Großvater gehörten, und jene, die ausschließlich vom Krieg erzählten. Die hatten danach nichts mehr erlebt – es war ihre „schönste Zeit“ im Leben.

Der Großvater sprach auch sonst fast nie oder wenig. Jedenfalls nicht über Politik und den Krieg. Auch nicht darüber, wie viel Vermögen ihn zwei Inflationen resp. Währungsreformen gekostet hatten. Möglicherweise hatte ihm, der zwei Weltkriege überlebte und schließlich mit 92 starb, der Verlust von Söhnen und Schwiegersöhnen den Mund verschlossen.

Blieben uns nur die Dachböden mit ihren rätselhaften Chiffren vergangener Existenzen und Zeiten.

Irgendwann sind dann (fast) alle Dachböden durchstöbert…

Diese Phase wurde für mich später abgelöst durch den Aufenthalt in Antiquariaten. Sind das die Dachböden unserer offiziellen Schriftkultur – auch wenn sie im angelsächsischen Bereich meist eher im Souterrain zu finden sind?

Die Stille, die einem durch das rascheln einzelner Buchseiten erst bewusst wird, und der Geruch der alten Bücher hat als Erlebnis Drogen-Status!

Und da stehen sie dann alle – Seele an Seele – die noch gefunden werden wollen…

 

Copyright 2006, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger