Der Abschied der alten Dame SPD – Arbeit getan, Partei überflüssig?

Die Parteien-Landschaft in Deutschland ist in Aufruhr, vielleicht wirklich im Umbruch. Ist dies ein temporärer Wirbel oder ein grundlegender Prozess? Vieles spricht für das letztere: es liegt nämlich in einem Trend (international) und der läuft derzeit in der entgegengesetzten Richtung wie seinerzeit der „Genosse Trend“, der im Wahlergebnis 1972 kulminierte.

Wahlforscher und Soziologen stellen regelmäßig fest, dass der Trend einen größeren Einfluss hat als die jeweiligen Parteiprogramme oder Wahlkampf-Strategien sowie Politiker-Reden. Eine solche Feststellung ist allerdings weit entfernt davon, die Phänomene zu erklären!

Eine hervorragende Analyse des SPD-Niedergangs haben Ralph Bollmann und Patrick Bernau in der FAS vom 21.102018 geliefert. Sehr lesenswert! Kurz gefasst: die ursprüngliche Stärke der SPD wird nun zu ihrem Debakel. Sie hatte ein extrem breit gefächertes Wählerspektrum, und aus diesem laufen die Wähler nun buchstäblich in ALLE Richtungen weg. Die Autoren zeigen das an einer Vielzahl von Einzel-Prozessen auf, woraus man schließen kann, dass die SPD seit den 1990er Jahren nicht mehr viel richtig gemacht haben kann. Das scheint mir fast alles sehr fundiert (bis auf die Hartz-Argumentation…).

Aber worin liegt der gemeinsame Nenner in diesem Prozess?

Aus meiner Sicht könnte man es folgendermaßen zusammenfassen: die Arbeitnehmerpartei, die vorrübergehend (nach 1970) auch das extrem stark wachsende Akademiker-Lager (Intellektuelle) binden konnte und gleichzeitig von Teilen der Unternehmerschaft gestützt war, hat ihre Arbeit weitestgehend getan: in über 150 Jahren SPD-Geschichte sind die Arbeitnehmer-Rechte (in Deutschland noch gestärkt durch das Mitbestimmungsprinzip, über dessen positive gesellschaftliche Rolle bis heute Konsens besteht!) auf einem sehr hohen Stand angekommen (mit Ausnahme der Gender-Pay-Gap). Was derzeit auf diesem Gebiet noch weiter „abgearbeitet“ wird sind Optimierungen, die meistens ohne wesentlichen Kampf gegen konservative Kreise durchsetzbar sind. Gegen die umfassende Bedrohung des bereits Geschaffenen durch die Globalisierung hat die SPD kein schlüssiges Konzept (wie auch sonst niemand bisher).

Diese Optimierungs-Prozesse im Bereich der Arbeitnehmer-Rechte (und diese allerdings zunehmen handwerklich-gesetzgeberisch schlecht gemacht!) reichen heute bei weitem nicht mehr als Markenkern einer solche Volkspartei aus. Ein neues Konzept ist nicht erkennbar – ganz im Gegenteil: Führung und Teile der „Basis“ mahnen an, die Partei solle stärker wieder zu ihrem „alten Markenkern“ zurückkehren, sind also rückwärts gewendet. Das würde aber den Prozess der Marginalisierung noch einmal beschleunigen, denn das ist ein abgelutschter Kern, auf dem kein Fruchtflleisch mehr ist!

Ohne jedes Konzept und fast ohne Gegenwehr hat die SPD aus Ihrer vorübergehenden Stammwählerschaft sehr früh die Intellektuellen an die Grünen verloren (und damit jede Chance, das Thema Umwelt noch einmal für sich zu reklamieren) und hat sehr alte Stammwählerbestände an die Linken (nach Abspaltung der WASG, die sich mit den SED-Nachfolgeresten PDS vereinigte) verloren. Es ist auch festzustellen – und dies ist sicher gravierend – dass eben gerade die SPD es nicht verstanden hat, die Chancen der Wiedervereinigung zu nutzen. Die Ost-Wählerpotentale in PDS und Bündnis90, die ihr theoretisch nahe gestanden hätten, gingen ihr nachhaltig verloren.

Wer allerdings bei dem Thema Niedergang der SPD die AfD mit ins Spiel bringt, tut sich wirklich keinen Gefallen: die Ursache für die Abwanderung von Wählern zur AfD liegt nicht in der AfD sondern in der SPD!

Die SPD bräuchte dringend ein wirklich tragfähiges gesellschaftspolitisches Thema. Dies ist allerdings nicht in Sicht – wie auch: diese Weichen hätten vor 25 Jahren gestellt werden müssen.

Der klassische Bereich der Arbeitnehmer-Rechte ist in unserem Sozialstaat inzwischen gesetzlich verankert, Mitbestimmung und Gewerkschaften sind ein funktionierendes System, das – soweit erkennbar – niemand in Frage stellt.

Die Schwerpunkte der „sozialen Frage“ haben sich inzwischen sehr deutlich weg von den Arbeitnehmerrechten verschoben – dies kann ja nicht unbemerkt von der SPD geschehen sein … Meiner Meinung nach sind diese Themen heute und in Zukunft:

  • Demographie (seit den 1960ern absehbar!)
  • Globalisierungsfolgen (spätestens seit den 1990ern absehbar)
  • Umwelt/Klima (seit den 1970ern absehbar)
  • Kluft Arm/Reich (ein schwieriges weltpolitisches Dauer-Wirtschafts-Thema)

Vor 25 Jahren hätte sich die SPD weise vorausschauend zwei dieser Themen auf das Banner heften können um zäh und geduldig auf den Moment hin zu arbeiten, in dem sie schmerzhaft den Nerv der Bürger treffen würden … und die Partei die nötige Kompetenz für diese Themen besessen hätte. Nun bleibt der SPD anscheinend wirklich nur noch die „Kompetenz“ der sozialen Feinjustage (und ein bissel Europa .. aber dies kein USP!) – dies ist aber nichts, was die Bürger zu einem Kreuz auf dem Wahlzettel motiviert. Der sagt vielmehr hierzu: „Nicht gemeckert ist genug gelobt.

Ich stimme Bollmann/Bernau in einem weiteren Punkt zu – und der erscheint mir ebenfalls maßgeblich an dem Marginalisierungstrend dieser ehemaligen Volkspartei schuld zu sein: das Personal!

Es fehlt dem heutigen SPD-Führungspersonal (nicht erst heute) ausreichender Erfahrungs-Bezug zum „wirklichen Leben“ der Menschen in Wirtschaft, Industrie, Finanzwesen, Gesundheitswesen, Verwaltung, Handwerk und Kunst. Schon lange hat das Personal überwiegend innerparteiliche Lebensläufe, die in der Jugendorganisation begannen und sich von Wahlkampf zu Wahlkampf im Klein-Klein verloren haben – und im innerparteilichen Wettbewerb zu den Spitzen der Organisation. Ein großer Entwurf war hier schon lange nicht mehr möglich. Seiteneinsteiger mit entsprechend relevanter Berufserfahrung haben in dieser Partei schmerzhafte Erfahrungen machen müssen.

Also: Die Arbeit dieser Partei ist getan – neue Themen nicht in Sicht – Partei überflüssig?

Ich glaube: ja!

Der Brandenburger Tor, Berlin, 13.10.2018

Herbert Börger