Es fährt noch ein Zug von der Gare de l’Est

oder: Train-A-Grand-Vitesse-Déprimé

(Motto: so ein Zug ist ja schließlich auch nur ein Mensch!)

Eigentlich fährt natürlich ständig ein Zug von der Gare de l’Est, besonders nach Deutschland – und mittlerweile: was für Züge! SuperHochgeschwindigkeitszüge (im Nachbarland Train a Grand Vitesse = TGV genannt).

Aber auch deutsche! – die 400 km/h und mehr erreichen können und dabei sanft und leise dahin schweben – wenn sie dürfen!

Leider ist die Fahrt von Paris nach Mannheim für den deutschstämmigen Superzug eine geradezu erniedrigende Prozedur!

Kaum ist der Rand der Ile de France erklommen, geht der Zug schnurstracks auf Höchstgeschwindigkeit und gleitet mit grandioser Fahrtruhe seinem Heimatland entgegen.

Dafür haben unsere westlichen Nachbarn extra eine gerade Linie mit dem Lineal von Paris bis ins Lothringen nördlich von Metz gezogen und dann auf der Linie entlang ein neues Gleis ohne Haltestelle gebaut. Das scheint dem weißen Pfeil auf Schienen mächtig zu behagen.

Als erfahrener und technikverliebter Reisender blicke ich mich jetzt erwartungsfroh um, da ich gerne wüsste wie schnell der jetzt unterwegs ist.

Da sind zwar hochmoderne elektronische Anzeigetafeln mit roter Schrift an beiden Wagenenden, aber die geben in winziger Schrift, die man vom Sitzplatz ohnehin nicht lesen kann, ständig nur bekloppte Reservierungs-Hinweise, die der, der hier im Zug sitzt, jetzt gerade nicht braucht, denn sonst säße er ja nicht hier…!

Kaum aber ist das grandiose Vehikel in Lothringen – wahrscheinlich eine Strafe für die teilweise deutsche Vorgeschichte – auf einen Schleichgang abgebremst worden, erscheint plötzlich doch noch in riesigen Lettern weithin sichtbar auf dieser Tafel: 125 km/h !!! Erstaunlich, ich hätte jetzt 60 km/h geschätzt…

Noch einmal beschleunigt das weiße Phantom mächtig – prompt erscheint in der Anzeige wieder Kleingedrucktes. Erst als wir gemächlich nach Saarbrücken hinein bummeln, freut sich die Großanzeige wieder über sagenhafte 100 km/h.

Hier keimte bei mir der Verdacht auf, es könnte durchaus dies quasi eine Demonstration von systemkritischen Programmierern mit Zugang zum Anzeige-System darstellen, die jedem, der bereit ist das wahrzunehmen entgegen schreit: sieh nur – in diesem Bummeltempo ist Euer Land in die Zukunft unterwegs, und in nicht ferner Zeit wird die Zukunft über euch hinwegbrausen, so wie dieses weiße Phantom über die triste Landschaft der Champagne!

Herr Mehdorn würde dies wahrscheinlich nicht bemerken, selbst wenn er im Zug säße, denn er weiß das ja schon und er würde sich eben darüber freuen, wie elegant sein Geisterzug durch Frankreich huschen kann.

Nun finde ich eine derartige zukunftspolitische Demonstration gar nicht schlecht, hätte da aber noch einen eigenen Vorschlag parat:

man nutze die Anzeige, die ja den größten Teil der Fahrtzeit eher ungenutzt ist, um auf ihr kurze Gedichte und Aphorismen  anzuschreiben – gerne auch für den Reisezweck passend umgedichtet:

„Ich setzte

meinen Fuß

in den Zug –

– und er trug!“

(Sorry, Hilde!)

oder

„Ein Zug ist ein Zug ist ein Zug“

Aber vielleicht ist das zu teuer, wegen der fälligen Tantiemen an die Dichter und ihre Erben…. Und der garantiert tantiemefreie Ovid ist eben lateinisch.. und nicht ganz jugendfrei.

(Aber falls doch Interesse besteht: ich habe als Gymnasiast eine fabelhafte Ovid-Übersetzung verfasst – in Hexametern! – die hätte ich günstig abzugeben.)

Es folgt, was man schon ahnte: nach ausgiebigem Halt in Saarbrücken – wahrscheinlich darf nur ein Lockführer der passenden Nation jeweils den Wachhalte-Knopf im Leitstand drücken – schaukelt uns der Schienen-Potenzprotz für den Rest der Reise durch idyllische, heimische Täler und Auen.

Das gezügelt dahin gleitende Schienen-Ungetüm träumt jetzt wahrscheinlich schon wieder von der Rückfahrt, wenn es wieder wie ein Pfeil über die karge Champagne- und Marne-Landschaft fliegen darf.

Für mich hielt die elektronische Anzeigetafel allerdings noch eine kleine Gemeinheit parat: als ich kurz vor Saarbrücken aufblickte, stellte die Anzeige in großen Lettern gerade die Frage:

„Haben Sie auch nichts vergessen?“.

Kurz darauf erschien – für das Volk der französischen Analphabeten eingebettet zwischen Piktogrammen eines Koffers und eines Regenschirmes: „Oublié quelle-que chose?“

Das war natürlich an die gerichtet, die – überrascht über die kurze Fahrt und halb besoffen jetzt gerade noch rechtzeitig aus dem Bord-Bistro torkelten und in Saarbrücken ohne ihr Gepäck aussteigen wollten.

Anstatt dessen durchfuhr es mich siedend heiß: am letzten Tag in Paris hatte ich mein Gepäck im Hotel deponiert, um es auf der Metro-Fahrt zum Bahnhof bei einer kurzen Unterbrechung in St.Germain-des-Prés dort abzuholen. Und das hatte ich vergessen!

Die ganze Zeit des Aufenthaltes im Bahnhof von Saarbrücken redete ich auf den Schaffner ein, er möge den Lokführer zur Umkehr bewegen, um mein Gepäck noch aus dem Hotel abzuholen. Ich ließ erst nach der Weiterfahrt von ihm ab, da mir auch klar war, dass der Zug nicht auf offener Strecke umdrehen konnte.

Im Augenwinkel sah ich noch, dass er danach sofort zum Telefonhörer griff, und ich befürchtete schon, dass in Kaiserslautern einige Pfleger in weißen Anzügen am Bahnsteig stehen würden. Zeit genug wäre ja gewesen, um sie zu mobilisieren… Aber ich hörte dann, dass er doch nur seine Frau anrief, sie möge ihm schon mal einen Melissentee kochen, heute seien wieder lauter Bekloppte im Zug unterwegs!

Kurz vor Mannheim wache ich auf, als wir durch Ludwigshafen ruckelten.

(Bitte: das heißt jetzt „Metropolregion Rhein-Neckar“ – sic! Ob jemand den mittelhochdeutschen Stabreim gemerkt hat? Vielleicht eine beabsichtigte Erinnerung an die Nibelungen?).

Der Blick nach oben offenbarte mir erleichternd die Anwesenheit meines Koffers – verursacht die extrem hohe Reisegeschwindigkeit vielleicht doch schlechte Träume?

Als ich meinen zentnerschweren Trolley zum Ausgang zerre, angelsächselt die Anzeigetafel ironisch auf mich ein:

„Your Luggage?“

(O Sanctus Globalinius!)

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor, Herbert Börger

Ein Top-Manager im Supermarkt

Ein Kurzroman

MB ist Vorstandsvorsitzender eines stattlichen mittelständischen Konzerns.

Für die, die mit dem Berufsbild des Vorstandsvorsitzenden nichts anzufangen wissen: es ist eine Position, die 10.000 anstreben, aber nur 250 erreichen können. Die außerordentliche Bedeutung, derer sich der Inhaber dieser Position gewiss sein kann, wird mit dem Verlust eines so genannten „normalen Lebens“ bezahlt, dafür gibt es Schmerzensgeld….

Die Samstagvormittags-Sitzung war kurzfristig vom Aufsichtsratsvorsitzenden abgesagt worden.

MB war sozusagen ohne festen Termin oder konkretes Vorhaben „zuhause gestrandet“. Dass irgendwo in ihm noch Reste des früheren „normalen“ Lebensgefühles schlummerten, sehen wir daran, dass er nicht sofort auf den nächsten freien Golfplatz flüchtete, sondern bei einem improvisierten Frühstück seiner besseren Hälfte vorschlug:

– Lass uns gemeinsam etwas unternehmen, wir haben ja immer viel zu wenig Zeit für einander!

Die teure Gattin war leicht verwirrt über den unerwarteten Ausbruch von Privatleben bei ihrem Mann, blickte ihm liebevoll ironisch in die Augen und erwiderte:

– Das ist lieb gemeint, Mausebär, du hast zwar nichts zu tun, aber heute Abend haben wir sechs Gäste, wie du sicher noch weißt, und da bin ich den ganzen Tag generalstabsmäßig ausgelastet.

Ursprünglich, nein – auch heute noch – hasste sie diese „Militarismen“, aber sie setzte sie heute gezielt ein, um ihren Mann zu beeindrucken, der nun leichthin einwarf:

– Was musst du denn tun? Warum machst du das alles selbst?

– Das Schicki-Micki-Zeugs kommt mir nicht über die Schwelle! Entweder koche ich selbst oder ich lade gar keine Gäste ein. Und was den Arbeitsaufwand betrifft: wenn Angestellte alles das, was ich tue, zu dem Zeitpunkt tun sollten, an dem es getan werden muss, brauchten wir sechs Dienstboten. Wir leben ja nicht mehr im Feudalismus. Das ist ganz ähnlich wie in deinem Job – wenn lauter normale nine-to-five-Angestellte eine Entscheidung treffen müssten, die du alleine in 15 Minuten schaffst, würde ein Stab von 30 Leuten drei Tage brauchen – und die wären sich dann wahrscheinlich immer noch nicht einig…

Wenige Manager in seiner Position kamen in den Genuss der Situation, dass ihre Partnerin sie nach 30 Jahren noch  überraschen konnten, da diese dann inzwischen längst durch weniger bodenständige aber dafür 20 Jahre jüngere Exemplare ausgetauscht worden waren.

Dass sie den vielleicht wesentlichsten Aspekt seiner beruflichen Funktion so treffend in einem Satz zusammenfassen konnte: es wirkte fast schon brutal, als ob jemand plötzlich ein jahrzehntelang sorgsam gehütetes Geheimnis enthüllt und sich die Maske herunter reißt.

Blitzartig schlüpfte die kluge Ehefrau aber wieder zurück in Ihre ihre angestammte Rolle, übersah geflissentlich seinen verwirrt-überraschten Gesichtsausdruck und sagte nur leichthin:

– Um drei kommt Elena und hilft mir beim Kochen. Jetzt muss ich erst einmal einkaufen fahren.

Da ging ein Leuchten über das Gesicht des Vorstandsvorsitzenden Mausebär:

– Aber das kann ich dir abnehmen, Hildchen! stellte er fest. Es klang nicht wie eine Frage oder ein Vorschlag – eher wie die ihm so geläufigen Anweisungen im Geschäftsumfeld.

Wie sie dieses „Hildchen“ hasste. Es passte überhaupt nicht zu ihrem Selbstverständnis. Aber um das „Hildchen“ zu verhindern, hätte sie sich vor 30 Jahren dagegen wehren müssen. Seit Jahrzehnten war sie bei Familie und Freunden eben das Hildchen, die kluge, starke Frau, die jeden Anschein der Überlegenheit vermied. Sogar der Aufsichtsratsvorsitzende Blaufelder hatte schon gesagt:

– Hildchen, Sie sind vielleicht der größte verborgene Schatz unseres Unternehmens! (Was auch immer damit gemeint haben mochte…) Das Hildchen klebte an ihr wie ein Markenzeichen.

Wenn sie nun noch länger diskutiert hätte, wäre ihr Zeitplan gefährlich ins Wanken geraten, also spielte sie mit:

– Gerne, Mausebär, du bist ein Schatz.  Wahrscheinlich brauchst du länger als ich und es wird sicher auch teurer, aber Zeit hast du ja heute und auf fünfzig Euro kommt es wirklich nicht an.

Sie wusste hinterher auch nicht mehr, warum sie diese Spitze einfließen ließ – das musste ihn verletzen, aber vielleicht, dachte sie, spornt es ihn ja auch an.

Der Herr über Milliarden hätte Probleme mit dem 300-Euro-Einkauf des nicht so ganz alltäglichen Bedarfes…? Natürlich würde er die bekommen – wann war er überhaupt zum letzten Mal in einem Supermarkt gewesen? Noch zu DM-Zeiten? Aber sie wischte bewusst alle Bedenken hinweg, denn sonst würde er hier noch länger herumsitzen und sie von der Arbeit abhalten. Die gewonnene Zeit würde sie in eine besonders schöne Präsentation der Mahlzeit für die wichtigen Geschäftsfreunde investieren.

– Hier ist der Zettel. Ich gebe dir 500 Euro mit – du wirst wohl höchstens 350 brauchen.

Entrüstet schob er das Geld zurück. Das fehlte noch: wie ein Schulbub, der von Mutti zum Einkaufen geschickt wird.

– Das zahle ich natürlich selbst!

– Hast du Bargeld dabei?… Natürlich nicht. … Mit deinen Kreditkarten kannst du im Supermarkt nicht zahlen, und die Geheimnummer deiner privaten EC-Karte weißt du wohl nicht auswendig!

– Nein, da rufe ich immer Frau Geier an.

– Jetzt nimm das Geld und fahre los, sonst wird es zu spät für den Fisch!

Mausebär machte sich auf den Weg: nicht ohne vorherige Einweisung durch Hildchen in den umfänglichen Einkaufszettel und ihre eindringliche Ermahnung, als-erstes-sofort-zur-Fischtheke zu eilen, da dort gestern wegen begrenzter Liefermengen keine festen telefonischen Vorbestellungen mehr angenommen worden waren.

Zwar hatte ihm Hildchen empfohlen, ihren kleinen Wagen für diese Tour zu benutzen, doch er hatte keine Ahnung, wie man zum Ruhr-Einkaufszentrum kommt, so dass er seinen großen Dienstwagen alleine wegen des Navigationssystems benutzen musste.

Hildchen hasste „Navis“ – und zwar hauptsächlich wegen der Frauenstimme, die die Routenanweisung gab. Sie hatte damals gesagt, als er sein erstes Navi hatte:

– Die passt wirklich gut zu eurer Generation: sanft, duldsam und immer bereit!

Später einmal, als sie am Tegernsee zu einem Restaurant neben der eingegebenen Route abbogen und die Stimme zum dritten Mal sanft gemahnt hatte:

– Wenn möglich, bitte wenden…

sagte Hildchen:

– Hacke ihr doch mal den Fuß ab, würde mich interessieren, was sie dann sagt!

Das hatte ihn regelrecht geschockt.

Nun gut, das war damals nach der Operation, von der sich Hildchen so langsam erholt hatte. Da war sie oft gereizt erschienen. Er hatte sie ihr ganzes gemeinsames Leben lang immer als grenzenlos stark und belastbar  erlebt. Glücklicherweise war ihre Stärke dann auch im vollen Umfang wieder zurück gekommen. Das war der Verdienst einer medizinischen Koryphäe, zu der Hildchen fast ein Jahr lang alle 14 Tage nach München zur Behandlung gefahren war. Eine Empfehlung ihrer Freundin Emma. Danach war sie wieder ganz das „Alte Hildchen“ geworden, um die alle ihn  so beneideten.

Es war schon richtig: er selbst mochte diese Frauenstimme seines Navis sehr gerne. Natürlich hätte er auf der 20. Fahrt zum Achensee auch ohne Navi hingefunden, aber es hätte ja eine Stauwarnung geben können….

Oft schaltete er das Navi sogar ein, wenn er aus der Tiefgarage des Büroturmes, der sein „Reich“ war, nach Hause fuhr – natürlich nur, wenn niemand dabei war…

Im Job stand er ständig unter Höchstspannung, was dadurch zu rechtfertigen war, dass am Ende etwas dabei herauskam! Daneben sehnte er sich im privaten Bereich nach grenzenloser Harmonie und Nachsicht…

Auch wenn man sich zum fünften Mal entgegen der Anweisung verfahren hatte, sagte die Stimme immer noch sanft und geduldig: „Wenn möglich, bitte wenden“ und nicht etwa: „kannst du denn gar nichts richtig machen?“.

Was war falsch daran?

Was an der Benutzung des S 500 falsch war, merkte er sofort, als er auf den riesigen aber proppen-vollen Parkplatz des Einkaufszentrums einbog: die Wagenklasse war dort nicht vorgesehen!

Warum hatte er Hildchen eigentlich nie gesagt, dass man die Stimme im Navi auch abschalten konnte?

Neidvoll sah er die Frauen in ihren Kleinwagen in die freiwerdenden Plätze hinein kurven. Sogar in den Durchfahrtgassen war er ein Verkehrshindernis. Als dann so eine sture Ziege einfach stehen blieb, musste er mit seinem Schlachtschiff auch noch zurücksetzen, wobei er um ein Haar einen KA zerquetscht hätte. Die ausnehmend attraktive Fahrerin funkelte ihn an wie ein aufgeklapptes Rasiermesser. Längst war ihm der Schweiß ausgebrochen.

Fluchtartig verließ er den Parkplatz, nicht ohne sich an der Ausfahrtbegrenzung eine hörbar hässliche Schramme in die rechte Tür zu ziehen.

Er fand in der Nachbarschaft den leeren Parkplatz einer Autoreparaturwerkstatt. Dort stellte er den Wagen eiligst ab – konnte sich aber nicht des Gedankens erwehren: Hoffentlich ist es nicht die Niederlassung eines einschlägigen osteuropäischen „Abschlepp-Dienstes“. Dann hätte ich Ihnen das Sahnestück ja auf dem Tablett serviert.

Fußwege gab es hier nicht. Er musste sich über die Fahrstraße in großem Bogen dem Einkaufszentrum nähern. Schließlich durchquerte er eine wild wuchernde Wiese zwischen Straße und Parkplatz. Das lange Gras war nass.

Sein Handy meldete sich jetzt. Hildchens besorgte Stimme: „Hast du den Fisch schon?“ „Natürlich – mach` Dir keine Sorgen! Ich komme prima klar!“ log er.

„Du bist wirklich ein Schatz. Jetzt kannst Du Dir Zeit lassen. Trink mal einen Kaffee.“

Er verstand sich nicht mehr: Er fühlte sich mies nach dieser Notlüge, die er ohne Not gebraucht hatte. Offensichtlich hatten ihm diese kleinen Missgeschicke  in einer einfachen Situation des realen Lebens sein gewohntes Selbstbewusstsein geraubt. Eine Konstellation ungewohnten Kontrollverlustes, mit der er nicht spontan umzugehen wusste. Er verhielt sich wie ein beim Mogeln ertappter Schüler.

Bei dem Telefonat mit Hildchen hatte er nicht auf den Boden geachtet und war mit seinen 400-Euro-Schuhen mitten durch eine schlammige Pfütze gestapft.

Jetzt stand er am Rande des großen Parkplatzes, atmete kurz durch und blickte über hunderte geparkte Autos zum Eingang des Einkaufszentrums hinüber.

Merkwürdigerweise erinnerte er sich in dieser Situation an den Anfang seiner Karriere, als er am Morgen seines ersten Arbeitstages unten vor der Konzernzentrale stand und zur Vorstandsetage im obersten Stockwerk hinaufblickte. Das war sein Ziel von Anfang an – und das hatte er erreicht, schneller als er damals gedacht hatte – und das, obwohl er gerade nicht immer ausschließlich seine eigene Karriere im Sinn hatte.

Für ihn war es immer sinnlos gewesen, sich für das Unternehmen zu engagieren, ohne dass die Mitarbeiter insgesamt davon profitierten. Es fiel ihm leicht, sich in deren Situation zu versetzen. Schließlich war er eigentlich auch nur ein Mitarbeiter – abhängig von den Wächtern des Kapitals.

Das war die Voraussetzung dafür, dass ihm nun über Jahrzehnte ein legendär gutes Verhältnis mit der Arbeitnehmerseite nachgesagt wurde – zu recht, wie er wusste. Das ist eine Position, die es manchmal enorm erleichterte sehr schwierige Entscheidungen durchzusetzen –  ein Vorteil, den die Kapitaleigner in seiner Person außerordentlich zu schätzen wussten.

Er ging nichts an, was nur durch verlustreiche interne Schlachten zu erreichen war. Danach musste man unter erheblichem Zeitverlust die internen Wunden kurieren – was oft mehr Kraft kostete als die ehrgeizigsten Ziele rechtfertigen konnten.

Er liebte die Schlacht im Markt – und die gewann er meistens, weil seine Mannschaft wie eine Mauer hinter ihm stand. Daher fühlte er sich „unverwundbar“.

Auch wenn seine Ansichten zeitweise denen der Kapitaleigner entgegenstanden, so erhielt er letztlich doch immer die Unterstützung des Aufsichtsrates – bisher jedenfalls.

Als der „Unverwundbare“ schließlich im Eingangsbereich des Einkaufszentrums stand gab er folgendes Bild ab:

Die Maß-Schuhe waren von  Schlamm verkrustet, Socken und Hosenaufschlag feucht und bespritzt. Er war verschwitzt und einzelne Haarsträhnen standen im vom Kopf ab. Die Brille beschlug so stark, dass er sie eine Zeit lang abnehmen musste.

Und er stand unter Zeitdruck – ohne die geringste Vorstellung, wo die Fischtheke im Supermarkt zu finden sein würde.

Er verstand nichts vom Einzelhandel, aber er ging davon aus dass so ein Großmarkt nicht von einem völligen Idioten geleitet wurde. Daher wurde ihm sofort klar, dass die völlige Unübersichtlichkeit, die ein zielgerichtetes Einkaufen unmöglich machte, einen großen Vorteil für den Verkäufer darstellen musste.

Er griff sich einen herum stehenden Wagen. Mit etwas Glück schaffte er es auch, sich und den Wagen gleichzeitig durch die Einlassbarriere zu schleusen.

Als er jetzt den Schritt beschleunigte, merkte er, dass mit dem Einkaufswagen etwas nicht stimmte. Eines der Räder schlug wild hin und her, was es sehr schwierig und kraftaufwändig machte, das Gefährt geradeaus zu dirigieren.

Die hoch gewachsene, attraktive Mittdreißigerin, die ihm im Hauptgang begegnete war dieselbe, deren KA er vorhin beinahe zerquetscht hätte. Sie erkannte aber nicht den distinguierten Herrn am Steuer eines S 500 sondern bemerkte einen offensichtlich alkoholisierten Penner, der den Einkaufswagen, an den er sich klammerte, kaum geradeaus führen konnte; verdreckte Schuhe und wirres Haar passten ins Bild, nicht aber der perfekt sitzende, edle Kaschmirmantel, den er vielleicht von einem wohlhabenden Bruder übernommen hatte, der ihm wohl auch den Geldschein zugesteckt hatte, den er jetzt hier wahrscheinlich in Alkoholika umsetzte…

Der Vorstandsvorsitzende hatte aber gar keinen Blick für die leicht ironisch-neugierige Mine der Schönen, denn er hatte soeben hinten an der Rückwand des Marktes die Frische-Theken entdeckt.

Mit wild hin und her schlagendem Wagenrad  steuerte er dort die Fischtheke an, wo er zunächst in der dritten Reihe anstand.

Links war am Rand der Theke ein großes Schild „Vorbestellungen“ aufgehängt.

Dort sprachen laufend Kundinnen vor und erhielten sofort ihre vorbestellte Ware aus dem Kühlraum ausgehändigt.

MB orientierte sich in der Auslage der Fischtheke und entdeckte zu seiner Erleichterung eine große Platte hoch aufgetürmt mit Seezungenfilets. Vor seinem inneren Auge erschienen Hildchens delikate Seezungenröllchen – er konnte sie sogar riechen – und er lächelte in sich hinein: sein Schuljungenfehler würde sich in Luft auflösen!

Zwar erlitten die begehrten Filets in den nächsten 10 Minuten seines Wartens einen dramatischen Schwund, doch nun war er als nächster dran und es lag immer noch eine stattliche Anzahl auf der Platte.

In dem Augenblick erhob sich am Abholschalter ein lautes Gezeter. Dort stand eine Frau und beschimpfte den Verkäufer, weil ihre Vorbestellung nicht notiert worden sei. Der Verkäufer zuckte gelassen die Schultern, fragte nach, und 10 Sekunden später waren die letzten Seezungenfilets verschwunden.

Die Frau hinter ihm in der Schlange sagte: „Immer wieder derselbe alte Trick. Die stand eben noch hinter mir! Aber ich bringe das einfach nicht fertig. Da sieht man wieder die Nachteile einer guten Erziehung. Glücklicherweise gibt es aber auch viele Vorteile.“

MB war gerade nicht nach einer geistreichen Unterhaltung über die Vor- und Nachteile einer guten Kinderstube zu Mute. Er stand unter Schock, orderte schnell die anderen Kostbarkeiten auf dem Zettel und hatte sich dann sogleich vom Fischstand abgewendet. Hier machte sich nun seine nicht vorhandene Erfahrung in vielen Dingen des einfachen täglichen Lebens bemerkbar: er hatte noch nicht einmal nachgefragt. Hätte er sich nach drei Schritten noch einmal umgewendet, hätte er gesehen, dass die nächste hoch getürmte Platte mit Seezungenfilets nach vorne getragen wurde….

Diese banale Niederlage „in freier Wildbahn des Lebens“ hatte ihm einen Schweißausbruch beschert. Er zwang sich zur Ruhe: es würde ja wohl im Umkreis von 25 Kilometern noch ein anderes kompetentes Fischgeschäft geben.

Da er bisher nicht gewillt war, derartige Möglichkeiten des Internet auf dem Handy zu erlernen, blieb da nur noch Frau Geier als Anlaufstelle. Seine Sekretärin würde jetzt sicher auch die Gelegenheit zu Einkäufen mit Ihrem Mann nutzen, aber ihr Handy war für ihn immer erreichbar, falls er dringend eine Information brauchte.

So war es auch: Frau Geier meldete sich sofort und sagte auf sein Anliegen:

„Das würde ich im Ruhr-Zentrum holen.“

„Dort bin ich gerade und Seezunge ist ausverkauft!“

„Dann müssen Sie 20-30 km fahren. Die Markthalle Im Kaufhof in Essen hat das immer – und die Nordsee ist gleich um die Ecke.“

Unter normalen Umständen hätte er sich den Scherz hier sicher nicht entgehen lassen, ob 250 km Entfernung zur Nordsee für sie „um die Ecke“ sei.

Er wollte sich gerade bedanken, da hörte er am anderen Ende der Verbindung das gedämpfte Läuten eines Telefonapparates.

Er war wie vom Donner gerührt. Alles um ihn herum versank hinter der einen klaren Vision: Frau Geier stand im Sekretariat der Vorstandsetage! Nach über 20 Jahren mit zahllosen Anrufen von Reisen, war das Klingeln seines eigenen Apparates, das gedämpft durch die offene Tür zum Sekretariat drang, absolut unverkennbar für ihn. Jetzt fiel ihm auch die ungewöhnliche Befangenheit in Frau Geiers Stimme auf.

Wie in Trance klappte er das Mobiltelefon zu und starrte vor sich hin.

Es gab dort eine Sitzung, von der er nichts wusste – nein: aus der er bewusst ausgeladen worden war.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dass er die ganze Situation erfasste.

In den unmittelbar darauf folgenden Sekundenbruchteilen fiel der Schirm der „Unverwundbarkeit“ von ihm ab. er meinte sogar das Aufschlagen der Trümmer auf den Boden zu hören. In Wirklichkeit war dies zwar nur das laute Klappern zwischen den Drahtkörben der Einkaufswagen, als eine Familie versuchte sich in dem Gang an ihm vorbei zu drängen.

Er hörte auch nicht die Bitte der Frau, ob er seinen Wagen zur Seite schieben könne, weil in seinem Kopf gerade eine straff gespannte Saite mit lautem, hartem Geräusch zerriss.

Das ganze Energiezentrum in seinem Inneren, das einen ganzen Konzern über Jahre erfolgreich vorangetrieben hatte, war implodiert.

MB ließ den Einkaufswagen stehen und verließ den Markt, ohne irgend etwas um sich herum wahrzunehmen.

Er sah nur die Szenen vor sich, die gerade im Konferenzraum der Konzernzentrale in seiner Abwesenheit abliefen:

der Aufsichtsrat war dabei, jenen 43-jährigen Schnösel als seinen Nachfolger zu installieren, den Blaufelder ihm so warm als Nachfolger von Finanzvorstand Schneider und seinen eigenen Stellvertreter ans Herz gelegt hatte. MB hatte das Ansinnen abgelehnt. Mit diesem Mann gab es für ihn keine Basis der Zusammenarbeit – er kannte die Branche viel zu wenig, was der auch noch als „Vorteil“ verkaufte.

Jetzt waren sie dabei, eine Erklärung vorzubereiten, dass MB sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Vorstandsvorsitz zurückziehe und welche phantastischen Verdienste das Unternehmen dem Scheidenden zu verdanken hatte.

Er ging wie in Trance über den Parkplatz, dann die Treppenstufen hinab, die zur Straße führten, die dort am Steilabhang des Tales den Brückenkopf der Stahlbrücke bildete, die sich über das 120 Meter tiefe, grüne Tal spannte.

Jetzt sah er es wieder genau vor sich: nach seiner Ablehnung von Blaufelders Vorschlag hatte sich dessen Mine zu einer eisigen Maske verschlossen und er hatte das Thema danach nicht mehr angesprochen.

Im Bewusstsein seiner „Unverwundbarkeit“ hatte der Vorstandsvorsitzende Blaufelders Gesichtsausdruck keine Bedeutung beigemessen.

Ein schwerer Irrtum!

Er überquerte die Straße und ging am östlichen Brückengeländer entlang 150 Meter weit auf die Bücke.

Er stützte sich auf das Geländer, das er mit beiden Händen umklammerte und blickte in den über 100 Meter tiefen Abgrund.

Unten nahm er eine Straße und einzelne Häuser neben dem Fluss wie Spielzeug wahr. Am Straßenrand stand da unten ein Rettungswagen mit Blaulicht. Blaufelder hatte mal wieder an alles gedacht…

MB zog den Mantel völlig ruhig aus und legte ihn sorgsam zusammengefaltet auf das Brückengeländer. Er lächelte, als ihm diese sinnlose Geste bewusst wurde.

Dann ließ er sich über das Geländer in die Tiefe gleiten.

Während er fiel, wunderte er sich, dass sein Leben nicht wie ein Film an vor ihm vorbeihuschte – und als er unten aufschlug, erwachte er nicht schweißgebadet in seinem Bett.

Bereits in den Sonntagszeitungen meldet das Unternehmen den überraschenden und bedauerlichen Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden. Man vermutet eine schwere Erkrankung als Grund. Diese Vermutung werde durch den unmittelbar darauf folgenden Freitod des Mannes gestützt. Fremdverschulden an dem Brückensturz sei auszuschließen. Obwohl ein Rettungswagen nur zwei Minuten später zur Stelle gewesen sei, sei natürlich aufgrund der Höhe des Sturzes nur noch der Tod festzustellen gewesen.

Copyright 2009, Der Brandenburger Tor – Herbert Börger

Kolloquium im Krankenbett

– oder: „Wie die Welt beinahe gerettet worden wäre…“

(Eine wahre Krankenbett-Geschichte.)

Stundenlang da-liegen und dösen unter dem Einfluss der ersten Antibiotikum-Dosis…

Es ist früh morgens.

Der Kopf, der sich mit gewisser Berechtigung einbildet Kommandozentrale zu sein, taucht aus der Tiefsee verworrener Träume und Halluzinationen langsam an die Oberfläche.

Aus dem diffusen Wabern milchiger Schwaden beginnen sich zwei Projekte mit zarten Konturen heraus zu bilden:

1. aufstehen und pinkeln gehen!

2. das dazu nutzen, um Papier und Stift zu holen, um sofort aufzuschreiben, wie die Welt gerettet werden kann!

Denn genau das hatte sich hinter den wabernden Schleiern im Döse-Zustand von Infekt und Medikamentenwirkung ganz selbständig herausgebildet: eine absolut geniale Lösung, wie die Wellt zu retten sein würde!

Früher hätte man das eine Erleuchtung oder einen messianischen Auftrag genannt – ein höheres Wesen hat sich meiner als Medium bedient!

„Jacques d’Arc – postmodern“.

Die Notwendigkeit, dieses schnellstens schriftlich festzuhalten, erlangte sofort noch höhere Dringlichkeit als der Harndrang!

Ich erneuerte meinen Befehl an die unteren Extremitäten:

Aufstehen – aber sofort!

Keine Reaktion… nur das rechte Knie lässt sich vernehmen: „Wir haben keine Lust, es ist gerade mal wirklich gemütlich hier.“

Und tatsächlich spüre ich, wie sich die Kniekehlen tiefer in die Matratze kuscheln.

Also wiegele ich ab: „Ihr habt recht, ich finde es hier augenblicklich auch ausgesprochen angenehm, aber erstens terrorisiert mich der Quälgeist Blase und zweitens haben wir einen messianischen Auftrag!“

Darauf das rechte Knie: „Typisch: vor zwei Stunden haben wir dich in die Küche geschleppt, damit du etwas trinken kannst, sonst müsstest du jetzt nicht pullern … und was den Auftrag betrifft, nimm’s mir nicht übel, aber bis du was zum Schreiben hast, hast du längst vergessen, wie du die Welt retten wolltest!“

Vor lauter Überraschung entfuhr mir ein taktisch unkluges „Stimmt!“ – tatsächlich wusste ich jetzt schon nicht mehr, wie meine geniale Rettungsidee für die Welt funktioniert hatte.

Daher erließ ich an die Kommandozentrale den Geheim-Befehl, sie solle organisieren, dass zukünftig Stift und Papier am Bett liegen. Schließlich kann die Rettung der Welt nicht davon abhängig sein, ob meine Knie mir gehorchen oder nicht.

Ich beschloss nun, auf den kooperativen Führungsstil umzuschwenken:

„O.k., Jungs, wenn ich pinkeln war, mache ich uns ein Brötchen und esse das. Von dem frischen Blutzucker haben alle was!“

Worauf sich der alte Griesgram von Darm vernehmen ließ: „Und ich muss den ganzen Scheiß dann wieder entsorgen…“

Jetzt reichte es: „Habt ihr vergessen, wer hier der Chef ist?!“ brüllte ich.

Unter dem leisen Murren von allen Seiten hörte ich ganz deutlich das linke Knie wispern: „Gaa-nich ignorieren, Leute!“

Es ist ein bisschen doof – selbst für ein Knie – und fällt auf jede Anstiftung zur Arbeitsverweigerung rein….

Ich beschloss, diesen Fall von Renitenz nun meinerseits zu ignorieren, gab aber doch der Kommandozentrale den Auftrag, sich den Fall von Befehlsverweigerung zu merken. Man würde das dann zu gegebener Zeit zu würdigen wissen, z.B. wenn ich einmal entscheiden müsste, ob das linke oder das rechte Bein abgenommen werden sollte ( …ich hörte mich schon sagen: „…das Linke, aber über dem Knie!“).

Nun schwangen sich problemlos beide Beine aus dem Bett, lediglich die Halswirbel krachten laut, als sich der Oberkörper folgend aufrichtete.

„Jetzt fangt ihr auch noch an!“ herrschte ich die sofort an, fest entschlossen, jeden Widerstand ohne lange Diskussionen im Keine zu ersticken.

„Man wird ja wohl noch seine Befindlichkeit Ausdruck verleihen dürfen!“ tönte es im typischen nörgelig-blasierten Halswirbel-Ton.

„Nix da! Ihr verleiht nichts! Außerdem habt ihr als Träger der Kommandozentrale weder Mitsprache- noch Streikrecht! Ihr seid quasi Beamte! Eure ständigen Befindlichkeiten sind mir schon lange ein Dorn im  Nacken!“

Jetzt war erst einmal Ruhe – als stummen, passiven Protest machte sich allerdings jedes Organ und jedes Glied so schwer, wie es irgend konnte. Mit der Wirkung, dass ich mich zur Erledigung des Nötigsten durch das Haus schleppte und auf kürzestem Wege wieder ins Bett – nicht ohne für Schreibzeug zu sorgen.

Leider behielt das rechte Knie recht:  die Lösung, wie die Welt zu retten sei, ist mir nicht mehr eingefallen – aber auf jeden Fall besteht Hoffnung: wenn ich wieder einmal einen messianischen Auftrag bekommen sollte, liegen nun immer Stift und Papier am Bett…… und hier steht nun leider nur die Geschichte, wie die Welt beinahe gerettet worden wäre … Pech gehabt!

Eines ist mir dabei allerdings doch noch in den Sinn gekommen:

Wenn nun manche von den anderen, die solche Aufträge bekommen hatten, ähnliche Probleme hatten…. und ich glaube, Jeanne d’Arc konnte vermutlich noch nicht einmal schreiben…

Stellen Sie sich einmal vor: all die Propheten, Jesus, Jeanne d’Arc – sie alle hatten wie ich vergessen, wie ihr Auftrag gelautet hatte!

Die  haben sich – durchdrungen von dem messianischen Auftrag – nicht so leicht aus der Verantwortung stehlen können wie ich das heute getan habe – das hat man früher schon wesentlich ernster genommen!

Also fiel ihnen dann schon irgendwas wieder ein, worin der Auftrag bestanden haben musste….

So fiel Jesus ein, dass er seinen Feinden vergeben könnte…!

Jeanne d’Arc ging hin und besiegte mit einem total desolaten französischen Heer die Engländer!

… und wieder ein anderer ging hin und wurde mit dem 1. FC Nürnberg deutscher Fußball-Meister.

Gedankt hat es Ihnen in allen Fällen niemand – allerdings spricht man noch heute über sie!

Ich war mir aber dann doch noch etwas zu jung dafür, um auf diese Weise in die Geschichte einzugehen….

Außerdem war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich die Welt überhaupt retten wollte!

Hätte das höhere Wesen es überhaupt nötig, einen im Fieberwahn delirierenden Siechen wie mich zu seinem Medium zu benutzen, um die Welt zu retten?

Warum hat es die Welt nicht einfach selber gerettet und mich in Ruhe meine Lungenentzündung auskurieren lasen?

Auf diese Fragen fand ich aber keine Antwort mehr, denn ich hatte mich schon wieder in größten Einverständnis mit allen meinen Gliedmaßen genüsslich in die Matratze gekuschelt und dämmerte auf Heilung hoffend dahin.

Postscriptum: Dies ist die erste kleine Geschichte, die plötzlich von irgendwo aus dem Off in mich hinein fuhr und in meine Schreibfeder drängte. Nichts von dem, das darin steht ist „ausgedacht“ – ohnehin ist es nur die reine Wahrheit und eigentlich schreibe ich nicht, sondern es schreibt mich … 

Copyright 2009 – Der Brandenburger Tor, Herbert Börger