Das fängt ja gut an – 325 – Hier gehören wir hin

Vor gut neun Monaten sind meine Frau und ich nach Berlin gezogen. Ein Zeitraum, von dem man weiß, dass darin etwas wachsen kann… Vom Dorf in die Millionen-Haupt-Stadt!

Vorher haben wir auf einem Dorf (ca. 950 Einwohner) in West-Mittelfranken gewohnt. Sind wir zum „Ruhestand“ vor einer vorgezognen Grabes-Ruhe auf dem Land in die Großstadt geflohen? Nein, so war es nicht.

Es war ein skurril-existenzielles Erlebnis, das uns mit 70/71 Jahren endgültig den Mut zu diesem Schritt verlieh. Davor gab es nur „Ideen“. Vorher sollte ich sagen, dass unsere Mütter (meine und meiner Frau) in Sachsen-Anhalt geboren und aufgewachsen sind. Dadurch sind wir als Kinder durch eine Großeltern-Welt in Mitteldeutschland (wie die korrekte Bezeichnung heißt) geprägt. Politische Systeme dieser Epoche spielen bei der emotionalen Erfassung eines Standortes bei Kindern/jungen Erwachsenen absolut keine Rolle (wenn man sie in Ruhe läßt)!

Wir waren dabei, den ganzen Großraum Berlin nach einem möglichen Standort für uns zu beschnuppern und gingen gerade durch Köpenick. Schritten Arm-in-Arm ober diese typischen Bürgersteige mit den kleinquadratig gepflasterten Mittelwegen, die durch die Wurzeln der Straßenbäume einen leichten, unkalkulierbaren „Wellenschlag“ erhalten. Da sagten wir gleichzeitig: hier gehören wir hin! Sie werden es kaum glauben – wir selbst müssen uns immer wieder gegenseitig versichern, dass es so war.

Gesagt – getan: danach waren wir wild entschlossen und haben im Südosten Berlins unsere Zelte aufgeschlagen – allerdings schon in einem festen Gebäude … Eine Stunde mit ÖPNV zum Pariser Platz (und egal ob ehemaliges West- oder Ost-Berlin – danke RINGBAHN!).

Vorläufiges Fazit nach neun Monaten?

Wieder sollte ich vorausschicken, dass in der Region in Franken, die wir verlassen haben, nicht unsere Wurzeln lagen. Wir haben die normale Biografie einer Ende der 60er gegründeten Kleinfamilie, mit auf das Studium fern der „Heimat“ folgendem Umzug der Familie zunächst im Durchschnitt alle 7 Jahre. Dann bedingt durch Unternehmensgründung ein längerer Aufenthalt in Franken. Die Kinder sind längst aus dem Haus – dann gegen Alter 70 schließlich wird der geplante Ruhestand angepeilt.

Eine „Heimat“ zu definieren ist da fast unmöglich. Die Lebensmittelpunkte der Eltern haben sich längst verflüchtigt – Jugendfreunde/Schul-/Studienfreunde/Berufskontakte: alle weit über das Land verstreut. Erste „Einschläge“ sind schon näher gekommen.

Das Fazit nach 9 Monaten ist überwältigend positiv. Das Hierhergehör-Gefühl hat sich vertieft und verfestigt. So fühlt sich Leben an.

Danke Berlin. Du bist real gelebtes Chaos auf allen Ebenen – oft bis zur Unerträglichkeit – überlagert von einer fast natürlich wirkenden entspannten Selbstverständlichkeit.

Berlin ist – jetzt aus der Nähe betrachtet – ein eigenes Universum mit einer extrem starken Vitalität (im positiven wie im negativen). In obersten politisch-gesellschaftlichen Ebnen wabern die ständigen Diskurse und Geplänkel zweier Regierungen, auf unterster Kiez-Ebene tobt manchmal der Straßenkampf um jedes Haus! Das ist eine pralle Wirklichkeit, die man gar nicht erfinden könnte – ein veritabler Humus für Kultur in ständigem Wandel.

Die „Stadt“ hat seit der Wiedervereinigung anscheinend eine enorm starke Selbstbezogenheit entwickelt. Wenn man hier lebt, rücken nach relativ kurzer Zeit, andere Bereiche Deutschlands weit weg. Man ist manchmal überrascht, wenn man sich bewußt macht, dass es auch noch andere Orte außer Berlin gibt – die zusammen 86% von Deutschland ausmachen. Gefühlt ist das umgekehrt…! Das ist nach wenigen Monaten Neu-Berlinertum wirklich ein Beweis für eine starke Sogwirkung, die das Monster-Gebilde „Hauptstadt“ ausübt. Es besitzt ein völlig ungerechtfertigtes, übersteigertes Selbstbewusstsein – ist aber aber trotzden rätselhafterweise sehr sympathisch.

Ich habe dich noch nicht verstanden, Berlin. Gib mir mal 9 Jahre dazu!

Aphorismus des Tages: „Berlin ist mehr als ein Weltteil als eine Stadt.“ (Jean Paul, 1763 – 1825), deutscher Dichter – und kurioserweise war er Gymnasial-Lehrer in der Kreisstadt unseres vor Berlin letzten Lebensmittelpunktes in Mittelfranken (Neustadt an der Aisch).

Bild des Tages: „Sightseeing“ mit ÖPNV – aus dem Bus 100 am Lustgarten.

ÖPNV_Sightseeing_Bus100

Herbert Börger

© Der Brandenburger Tor, Berlin, 6. Dezember 2017